Die Lieferung - Roman
Erscheinungen, deren Alter nur an den kleinen Fältchen an den Augen zu erkennen war, wenn sie lachten oder wie jetzt die Wut ihre Gesichter älter und markanter machte. Es stand ihr nicht, dachte Nina und spürte, wie auch sie die Muskeln anspannte. Sich bereitmachte. Die Frau hatte sich samt Kinderwagen auf dem Bürgersteig aufgebaut und stand breitbeinig mit in die Seite gestützten Armen da.
»Ich stehe jetzt seit bald 20 Minuten hier und warte auf Sie«, schimpfte sie schrill und zeigte auf ihre Uhr. »Man lässt seine Kinder nicht einfach so im Auto. Nicht bei dieser Hitze. Die können sich da den Tod holen. Wissen Sie, wie gefährlich das ist?«
Nina wog ihre Strategie ab. Die Frau stand nicht seit 20 Minuten da, und Nina hatte darauf geachtet, den Fiat im Schatten einer großen Kastanie zu parken. Überdies hatte sie alle Fenster einen Spaltbreit geöffnet. Der Junge konnte in dieser kurzen Zeit nicht vor Hitze sterben, das wusste niemand besser als Nina. Sie hatte Kinder bei 48 Grad tagelang in der Hitze liegen sehen, bis sie an Unterernährung starben, nicht an Hitze. Diese Frau war nur eine dieser selbstgerechten Idiotinnen,
die es genoss, anderen zu zeigen, was für eine gute Mutter sie selbst war. Nina wusste das alles, aber es half ihr im Moment nicht weiter. Jetzt kam es nur darauf an, so wenig Aufmerksamkeit wie nur möglich zu erregen und von hier wegzukommen. Sie senkte den Blick und rang sich ein entschuldigendes Lächeln ab.
»Ich wollte ihm nur ein Eis holen, aber ich musste an der Kasse warten«, murmelte sie schnell und schob sich an der wütenden Frau vorbei.
»In der Boutique wohl auch«, sagte die Frau scharf, und Nina fluchte innerlich. Die Tüte aus dem Kinderladen war nicht zu übersehen, so dass sie sich entschied, den Mund zu halten. Stattdessen schloss sie resolut das Auto auf, warf einen raschen Blick auf die Rückbank und wäre vor Überraschung beinahe rückwärts gegen die Frau getaumelt.
Der Junge hatte sich hingesetzt.
Er hatte noch immer ein Stück der Decke um die Beine gewickelt, saß aber aufrecht da und starrte durch das halboffene Fenster zu ihr nach draußen. Seine Augen waren ungewöhnlich groß und dunkelblau.
Nina musste sich zwingen, stehen zu bleiben, während sie im Kopf fieberhaft alle Möglichkeiten durchspielte. Sollte sie sich einfach ins Auto setzen und losfahren? Oder war es besser, erst etwas zu ihm zu sagen? Aber was sollte sie tun, wenn er ihr antwortete? Da kam ihr das Eis in den Sinn.
Es verging eine Zehntelsekunde, bis es ihr gelang, ihre Aufmerksamkeit vom benebelten, angsterfüllten Blick des Jungen auf die gelbe Netto-Tüte zu richten. Sie grub mit der Hand zwischen den Toastpackungen und Äpfeln, bis es ihr schließlich gelang, das Eis aus der Tüte zu ziehen und es aus der hellblauen Verpackung zu schälen. Sie wagte nicht, dem Jungen in die Augen zu sehen, als sie ihm das Eis durch das halb geöffnete Fenster reichte, aber das war allem Anschein nach gar
nicht nötig. Sie sah, wie sich die kleine Hand langsam zum Fenster streckte und die Waffel nahm.
»Atju.«
Die Stimme des Jungen war schwach, aber er sprach das Wort langsam und deutlich aus, als wollte er sichergehen, dass sie es auch richtig verstand.
»Nein«, sagte sie schnell. »Die waren ausverkauft. Deshalb habe ich dir dieses geholt.«
Dann marschierte sie so schnell wie nur möglich ums Auto herum und schob sich rasch auf den Fahrersitz. Noch als sie langsam aus der Parklücke fuhr, hörte sie die Frau wütend schimpfen.
»Sie haben ja nicht einmal einen Kindersitz«, keifte sie. »Das ist verboten. Ich fasse es nicht, wie sich jemand wie Sie Mutter nennen kann, das geht mir einfach nicht in den Kopf …«
Am liebsten wäre Sigita auf dem Polizeirevier geblieben, doch Gužas komplimentierte sie freundlich, aber bestimmt hinaus. Er habe ihre Handynummer und würde sie anrufen. Erneut forderte er sie auf, nach Hause zu gehen.
»Aber vielleicht sollten Sie nicht alleine bleiben. Was ist mit dem Vater des Jungen?«
»Der arbeitet in Deutschland. Er kommt nicht.«
»Dann jemand aus der Familie? Oder eine Freundin?«
Sie nickte kurz, als gehörte sie zu den Leuten, die so etwas hatten. Sie wollte ihm nicht eingestehen, wie einsam sie in Wirklichkeit war. Sie schämte sich dafür, wie für eine peinliche Krankheit.
Ihre Kopfschmerzen waren jetzt so heftig, dass sie sich wie ein schwarzer Streifen vor ihr Blickfeld schoben. Auch die Übelkeit meldete sich wieder. Vielleicht
Weitere Kostenlose Bücher