Die Lieferung - Roman
aggressive Summen zwang Jan, die Kaffeetasse abzustellen und zur Gegensprechanlage zu gehen.
»Ja.«
»Hier ist Inger.«
Es dauerte eine Viertelsekunde, bis ihm bewusst wurde, um welche Inger es sich handelte.
»Schwiegermama«, sagte er und versuchte, seiner Stimme einen fröhlichen Klang zu geben. »Komm doch rauf.«
Sie war blond wie Anne und hatte dieselbe schlanke Figur wie ihre Tochter. Sie trug eines ihrer farbenfrohen afrikanischen Kleider, die ihre braunen Arme und die Ebenholzarmbänder hervorhoben. Inger verstand sich auf so etwas - bei ihr sah es immer ganz natürlich und selbstverständlich aus.
»Anne hat mir gesagt, dass du hier bist«, erklärte sie. »Und da dachte ich, dass ich die Gelegenheit nutzen könnte.«
»Das ist ja eine Überraschung«, sagte Jan. »Magst du eine Tasse Kaffee?«
»Nein danke, ich will nur kurz mit dir reden.«
»Worüber denn?«, fragte er und versuchte, seine Frage beiläufig und humorvoll klingen zu lassen. »Was habe ich jetzt wieder angestellt?«
Sie nahm ihm seine gespielte Leichtigkeit nicht ab.
»Anne ist traurig«, sagte sie.
»Hat sie das gesagt?«
»Natürlich nicht. Du kennst sie doch. So etwas würde sie nie sagen. Aber sie ist irgendwie nicht sie selbst, und deshalb frage ich dich. Ist es wegen Aleksander?«
Sein Herz klopfte panisch.
»Nein, nein«, versicherte er. »Es geht ihm viel besser.«
Sie sah ihn sehr direkt an. Ihre Augen waren nicht so blau wie Annes, eher grau.
»Was ist es dann?«, fragte sie. »Stimmt zwischen euch beiden etwas nicht?«
Sein Lächeln fühlte sich steif und unnatürlich an, und er war sicher, dass sie es sah. Warum konnte er nie etwas richtig machen? Er bewunderte Inger. Sie war eine fantastische Frau, gleichermaßen feminin und stark, eine würdige Lebensgefährtin
für einen Mann wie Keld. Er wünschte sich so, dass sie ihn mochte.
»Ich würde nie etwas tun, das Anne verletzen könnte«, sagte er.
Sie runzelte die Stirn.
»Nein«, erwiderte sie. »Damit rechne ich auch nicht. Aber danach habe ich auch nicht gefragt.«
Wieder falsch. Manchmal war es, als hätte er einen kleinen Mann im Ohr, der jedes Mal einen ohrenbetäubenden Signalton auslöste, sobald er etwas Falsches sagte. Wie bei Menschen, die in einer Quiz-Show eine verkehrte Antwort gaben.
»Ich weiß nicht recht, worauf du hinauswillst«, sagte er. »Es geht uns gut.«
Sie seufzte, schüttelte den Kopf.
»Weißt du was?«, sagte sie. »Das glaube ich nicht.« Sie stand auf und schob sich den Riemen ihrer kleinen fransenbesetzten Lederhandtasche auf die nackte Schulter.
»Willst du schon gehen?«, fragte er.
»Warum sollte ich bleiben?«, antwortete sie, und er spürte, dass er wieder ein Examen verhauen hatte.
»Hast du mit Keld darüber gesprochen?«, rutschte es ihm heraus.
Wieder erntete er einen ihrer direkten graublauen Blicke. Sie schüttelte noch einmal den Kopf, aber er war sich nicht sicher, ob das als Nein zu deuten war. Was, wenn sie das alles in ihrer Villa in Tårbæk mit Keld besprochen hatte? Wenn sie im Garten, bei einem Glas Rotwein und richtig gutem Käse, darüber gesprochen hatten, dass in Annes Ehe auch nicht alles richtig lief?
Sein Bauch verkrampfte sich schon bei dem Gedanken daran.
»Mach’s gut«, sagte sie. »Ich hoffe, ihr findet eine Lösung.«
Bevor sie ging, legte sie ihm kurz die Hand auf den Arm, und er war sich ziemlich sicher, dass in ihrem Blick Mitleid lag.
Er stellte sich ans Fenster und sah sie über die Straße verschwinden. Von hinten sah sie noch immer wie ein junges Mädchen aus, ihre Schritte waren energisch und voller Schwung. Sie hatte ihm einmal lachend erzählt, dass sie in ihrer Jugend drei Jahre lang zum Ballett gegangen sei, bis man sie rausschmiss. Sie tanzte auch jetzt noch irgendwo.
Er merkte, dass er am ganzen Körper zitterte. Hör auf, ermahnte er sich. Gleich ruft der Litauer an und sagt, dass er Karin gefunden hat. Noch kann alles klappen. Es wird schon gut gehen.
Kurz vor zwölf klingelte das Telefon, aber es war nicht das Nokia. Anne meldete sich auf seinem privaten Handy.
»Die Polizei ist hier«, sagte sie. Ihre Stimme klang schwach und unsicher. »Sie sagen, Karin ist tot.«
Die Dobrovolskij-Familie war russischer Abstammung und schon seit über 100 Jahren in Vilnius ansässig. Der alte Dobrovolskij, der Patriarch, bewohnte eine der herrschaftlichen alten Holzvillen hinter der russisch-orthodoxen Kirche Mariä Verkündigung. Ein einziges Mal war Sigita mit
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