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Die Lieferung - Roman

Die Lieferung - Roman

Titel: Die Lieferung - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: PeP eBooks
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es von zu Hause gewohnt war.
    Frau Jovaišienė lebte bestimmt nicht mehr. Sie war damals schon über 90 gewesen. Sigita machte einen Bogen um die
Vykinto gatvė, in der das Haus lag, obgleich es kürzer gewesen wäre. Sie wollte es nicht sehen. Wollte nicht an diese Zeit erinnert werden. Mikas war im Moment das einzig Wichtige, sagte sie sich.
     
    Die Wohnung war unverändert. Weiß. Neu. Leer. Sie ließ die Jalousien herunter, wegen der Nachmittagssonne, und legte sich angezogen aufs Bett. Wenige Sekunden später war sie eingeschlafen.
     
    In dem Jahr, in dem Sigita schwanger wurde, kam der Winter früh nach Tauragė. Bereits Ende Oktober fiel der erste Schnee. Ihr Vater hatte kurz zuvor, nachdem Bronislavas Tomkus ausgezogen war, die Stelle des Hauswartes übernommen. Das bedeutete in der Praxis, dass Sigita ihrer Mutter beim Schneeschippen helfen musste, ehe sie in die Schule und ihre Mutter zu ihrer Arbeit im Postamt ging. Ihr Vater hatte es schließlich »mit dem Rücken«. Aber er bestand darauf, die Arbeit zu überwachen und zu delegieren, und hielt mit munteren Kommentaren die Moral des gemeinen Fußvolkes aufrecht.
    »Die Geheimwaffe der Russen«, sagte er und zeigte auf die Schneemassen. »Direkt aus Sibirien. Aber die kriegen uns nicht klein, solange wir kräftige Frauen wie euch haben!«
    Sobald jemand auf dem halb geräumten Gehweg vorbeiging, bezeichnete er Sigita und ihre Mutter scherzhaft als tapfere Vorkämpfer für die Unabhängigkeit, was Sigita ziemlich peinlich war.
    Das kalte Wetter hatte den Vorteil, dass Sigita dicke Pullover anziehen konnte und niemand etwas auffiel. Sie schwänzte inzwischen konsequent die Sportstunden, obgleich sie wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis die Lehrerin Bendikaitė den Schulleiter und dieser ihre Eltern informierte.
    Obgleich an der Schule kein Aufklärungsunterricht erteilt
wurde, wusste Sigita sehr genau, was es bedeutete, dass ihre Menstruation im August und September ausgeblieben war. Sie wusste nur nicht, wie sie damit umgehen sollte. Theoretisch konnte man in der Apotheke am Marktplatz einen Schwangerschaftstest kaufen, aber Frau Raguckienė, die dort an der Kasse saß, war mit ihrer Mutter zur Schule gegangen. Und was sollte ein Test bringen? Sigita wusste auch so, was mit ihr los war.
    Sie hatte Darius nichts gesagt. Ende August war er zu seinem Onkel nach Miami geschickt worden, um dort ein Jahr auf eine amerikanische Highschool zu gehen. Sigita wurde den Verdacht nie ganz los, dass Darius diese unerhörte Großzügigkeit seiner Mutter zu verdanken hatte, die in ihr nicht den richtigen Umgang für ihren Goldjungen sah. Sigita hatte ihm einen kurzen Brief geschrieben, ohne die Umstände zu erwähnen, in denen sie sich befand. Immerhin war ihre Mutter für das Sortieren der Post zuständig, die vom Postamt in Tauragė verschickt wurde, und Luftpostpapier war verräterisch dünn.
    Sie vermisste ihn. Sie vermisste ihn so sehr, dass ihre Brüste und das Zwerchfell schmerzten. Sie vermutete, dass diese Sehnsucht auf die lange Liste der Dinge gehörte, die sie Pater Paulius hätte beichten müssen, aber sie hatte nicht vor, etwas zu sagen. Mit der Zeit wurde ihr klar, dass das Spannungsgefühl in ihren Brüsten nicht nur auf verschmähte Liebe zurückzuführen war. Aber ihm in einem Brief mitzuteilen: »Ich bin schwanger«, oder: »Du wirst Vater«, wäre ihr im Traum nicht eingefallen.
    An einem Donnerstagabend Anfang Dezember packte sie so viele Sachen ein, wie in ihre Sporttasche passten. Den Koffer konnte sie nicht nehmen, weil er in einem abgeschlossenen Verschlag auf dem Dachboden lag. Außerdem hätte es viel zu viel Aufsehen erregt, wenn sie damit über die Hauptstraße
von Tauragė gegangen wäre. Womöglich versuchte dann jemand, sie aufzuhalten. Es musste ein Donnerstag sein, denn an diesem Tag waren sowohl ihr Vater als auch ihre Mutter außer Haus: Ihre Mutter besuchte donnerstags immer Großmutter Julija, und ihr Vater nutzte die Gelegenheit, mit alten Kameraden aus der Konservenfabrik Karten zu spielen.
    Sie hinterließ keinen Brief. Sie wusste ganz einfach nicht, was sie schreiben sollte. Nur ihr kleiner Bruder Tomas sah sie gehen.
    »Wo willst du hin?«, fragte er.
    »Ein bisschen frische Luft schnappen«, sagte sie und traute sich nicht, ihn anzusehen.
    »Mutter hat gesagt, du sollst auf mich aufpassen.«
    »Du bist zwölf, Tomas. Du kannst ganz gut alleine zu Hause sein.«
    Sie erreichte den letzten Bus nach Vilnius und kam

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