Die Lieferung - Roman
fünf Stunden später dort an. Es war halb ein Uhr nachts, und in der großen Stadt, von der sie so oft geträumt hatte, war so gut wie alles geschlossen oder außer Betrieb. Es fuhr kein Trolleybus mehr, und Geld für ein Taxi hatte sie nicht. Sie fragte einen Busfahrer nach dem Weg und ging durch enge, stille Gassen, während der Schnee unter ihren Sohlen knirschte.
Ihre Tante war gelinde gesagt verdutzt, sie zu sehen. Sie musste erklären, wer sie war, ehe Jolita sie wiedererkannte.
»Meine Güte, Sigita. Was machst du denn hier? Wieso hat deine Mutter nicht angerufen?«
»Ich wollte dich mal besuchen. Mutter weiß nichts davon.«
Jolita war Mutters große Schwester, sah aber viel jünger aus. Ihr Haar war schulterlang und rabenschwarz. Sie trug große Goldohrringe und einen mitternachtsblauen Seidenkimono, schien aber noch nicht geschlafen zu haben. Aus der Wohnung drang gedämpfte Jazzmusik, und es roch nach Zigaretten.
Jolitas bleistiftdünne Augenbrauen bewegten sich nach oben.
»Du willst mich besuchen ?«, wiederholte sie.
»Ja«, nickte Sigita. Und dann fing sie an zu weinen.
»Aber Schätzchen …«
»Du musst mir helfen«, schluchzte Sigita. »Ich kriege ein Kind.«
»Ach du lieber Gott, Schätzchen«, sagte Tante Jolita und zog sie in eine seidenglatte, tabakduftende Umarmung.
Karin ist tot . Karin ist tot. Karin ist tot.
Dieser Satz hämmerte rhythmisch in Ninas Kopf, als sie auf den Kildevej Richtung Kopenhagen einbog. Sie war sich ziemlich sicher, dass ihr vom Ferienhaus kein Auto gefolgt war. Die ersten atemlosen Kilometer bis Tibirke hatte sie alle zwei Sekunden in den Rückspiegel geschaut.
Karin ist tot, dachte sie und umklammerte das Lenkrad noch fester. Sie hatte versucht, die Finger an einem alten, fettigen Blatt Küchenrolle abzuwischen, das sie im Handschuhfach gefunden hatte, aber das Blut war an ihren Fingerspitzen zu einem dünnen rostroten Film getrocknet.
Karins Kopf hatte sich wie eins dieser riesigen, luxuriösen Schokoladenostereier angefühlt, die Anton und Ida immer von Mortens Eltern bekamen und die sie so oft auf den Boden warfen, bis sie unter der Glitzerfolie ganz krümelig und bröselig waren. Genauso hatte sich Karins Schädel, die Bruchstücke ihres Schädels, unter Ninas Fingerspitzen verschoben.
Jemand hatte sie erschlagen. Buchstäblich. Auf sie eingedroschen, bis sie tot war.
Nina spürte die Übelkeit aufwallen, als sie sich vorbeugte. Wie konnte jemand auf die Idee kommen, Karin umzubringen? Karin war der ungefährlichste, liebenswerteste Mensch, den sie je getroffen hatte. Blond und vollbusig auf eine mütterliche Art, die Nina immer an frisch gebackene Brötchen und fette Milch denken ließ. An Sicherheit.
Nina wischte sich über die Augen, nahm ihren Blick aber
nicht von den weißen Mittelstreifen, die in schwindelerregendem Tempo auf sie zurasten.
Sie hatten zusammengehalten, damals in der Schwesternschule. Waren an den Wochenenden bei jeder Party, in jeder Kneipe und bei jeder Studentenversammlung im Doppelpack aufgetreten, obgleich sie aus der Nähe betrachtet nichts gemein hatten. Nina war klein und sehnig und pflegte ihr mageres, depressives Äußeres. Karin hingegen war wie aus einem Propagandafilm des Dritten Reiches entsprungen: groß, blond, üppig, mit breiten Hüften und goldener, glatter Haut. Und vollkommen unkompliziert. Nicht dumm, aber unkompliziert, und mit einem himmelhohen Potenzial, richtig glücklich zu werden. So jedenfalls hatte Nina sie gesehen. Und das war wahrscheinlich auch der Grund dafür, dass sie an ihr hängen geblieben war. In der Hoffnung, etwas von Karins Glückspotenzial könne auf sie abfärben. Sie musste sich mit Leuten umgeben, deren Welt rund und perfekt schien. Warum Karin diejenige war, der es am schwersten fiel, ihren Traum von Mann und Kindern zu realisieren, war Nina immer ein Rätsel gewesen. Aber aus unerfindlichen Gründen hatten es die Männer nie lange bei ihr ausgehalten. Nina ihrerseits hatte das ganze Paket bekommen, ohne es überhaupt zu wollen, und das war es letztendlich wohl, was sie voneinander trennte.
Während Nina ihr erstes Kind bekam und versuchte, die Welt zu retten, arbeitete Karin als Privatkrankenschwester für eine dänische Familie in Brüssel. Sie trafen sich eigentlich immer, wenn sie gleichzeitig im Lande waren, aber der Abstand zwischen ihnen hatte sich mehr und mehr vergrößert.
Wie damals, als sie hochschwanger mit Anton war. Der fast gekränkte Blick in Karins
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