Die Lieferung - Roman
sie. In der Küche ging das Licht an, und sie erkannte eine dunkle Silhouette, die sich durch den Raum bewegte. Der Schatten im Fenster wurde größer und größer und beugte sich vor, und einen Augenblick
sah sie den bleichen Umriss eines Gesichtes, das gleich darauf wieder verschwand.
Nina schleuderte den Jungen fast auf den Beifahrersitz und steckte den Schlüssel ins Schloss. Sie startete den Motor und fuhr mit Vollgas blindlings rückwärts. Das lange Gras strich raschelnd über die Seite des Wagens, und an einer Stelle kratzte ein Ast oder ein Stumpf über den Unterboden. Die dunklen kahlen Fenster und die leeren Carports sagten ihr, dass alle anderen Ferienhäuser verwaist waren. Von dort war keine Hilfe zu erwarten. Also raste sie weiter rückwärts, ohne zu merken, dass sie das Licht nicht eingeschaltet hatte.
Der Junge neben ihr schrie jetzt so laut, dass man glauben konnte, jemand wollte ihn umbringen.
Nina holte tief Luft, nahm den Fuß vom Gas und schaltete die Scheinwerfer ein. Sie blickte zu dem Jungen hinüber, der sich im Fußraum zusammengekauert und die Arme um den Kopf geschlungen hatte. Seine Schreie waren in Schluchzen übergegangen, und zum ersten Mal war Nina in der Lage, in dem Strom der Tränen und undefinierbaren Geräusche einzelne Worte zu unterscheiden.
»Mama. Noriu pas mamą!«
Mein Gott, dachte sie. Er hat eine Mutter.
Jan hatte sich entschlossen, in der Firmenwohnung in der Laksegade zu übernachten. Er wusste ganz genau, dass er das tat, um Anne aus dem Weg zu gehen. Mit ihren feinen Antennen hatte sie natürlich mitbekommen, dass etwas nicht nach Plan gelaufen war. Er musste jetzt einen gewissen Abstand halten, damit sie nicht merkte, wie schlimm es stand. Außerdem war es das Beste, erst alles mit Karin zu klären, ehe man das Wagnis einging, Anne da mit reinzuziehen.
Er kaufte sich ein Fertiggericht im Magasin und wärmte es in der Mikrowelle der kleinen Küche auf. Der Gedanke an Karins Verrat hinterließ einen bitteren Geschmack in seinem Mund. Dass er sich so hatte täuschen können! Offensichtlich war sie deutlich unloyaler, dafür aber wesentlich gerissener, als er angenommen hatte. In ihrer Wohnung über seiner Garage hatte er nur zwei Dinge gefunden: den leeren Aktenkoffer und einen Zettel mit zwei Worten: »Ich kündige!«
Das also war der Dank. Normalerweise wusste er, wem er trauen konnte. Karin musste sich doch darüber im Klaren sein, was auf dem Spiel stand. Trotzdem wurde er den Gedanken nicht los, dass es sich um ein Missverständnis handelte, das sich klären würde, sobald er mit ihr sprechen konnte. Der Litauer hatte noch immer nicht angerufen, was nur bedeuten konnte, dass er sie noch nicht gefunden hatte. Bei dem Gedanken daran, was das für ihn und sein Leben bedeutete, wurde ihm übel. Stunde um Stunde sanken die Chancen dafür, dass alles wieder normal werden würde.
Er kochte sich eine Tasse Kaffee und schaltete den Fernseher ein, um die Nachrichten anzuschauen, aber er konnte nicht still sitzen bleiben. Vielleicht sollte er eine Runde durch Kongens have joggen? Er hatte allerdings keine Joggingsachen dabei und keine Lust, noch einmal einkaufen zu gehen. Ein sauberes Hemd und Unterwäsche hatte er bereits gekauft, wie schon oft, wenn sich die Arbeit so in die Länge zog, dass es zu spät war, noch in die Jammerlandbucht zurückzufahren.
Verglichen mit ihrem Haus an der Küste war die Wohnung klein und beengt. Trotzdem mochte er sie irgendwie. Marianne, seine persönliche Assistentin, hatte sich um die Einrichtung gekümmert und seinen Stil erstaunlich gut getroffen. Luxuriös-studentisch. Alte Sessel mit hellen Decken drüber. Retrolampen von diversen Flohmärkten. Sieben verschiedene Sorten Teller und keine zwei gleichen Tassen. Marianne gefiel so etwas. »Die Wohnung braucht eine persönliche Note«, hatte sie gesagt. »Sonst kannst du deine Leute gleich im Hotel wohnen lassen.« Vielleicht erinnerte die Wohnung ihn an seine Studentenbude in Bryggen, die er sich damals, als die Welt noch neu war und sie davon träumten, IT-Millionäre zu werden, mit seinem Kommilitonen Kristian geteilt hatte. Was Kristian jetzt wohl machte? Nur Jan hatte seinen Traum verwirklicht, soweit er wusste.
So ein verfluchter Tag. Er streckte sich und spürte einen Stich in der Operationsnarbe über der Hüfte. Ohne nachzudenken, begann er sich zu kratzen. Was zum Teufel machte dieser Litauer? Und was hatte sich Karin nur dabei gedacht?
Es klingelte. Das
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