Die Lieferung - Roman
die Tür, hielt sich am Rahmen fest, als sie herumschwang und für den Bruchteil einer Sekunde die fast weißen Haare des Jungen durchs Küchenfenster sah. Er lief weg. Sie rannte ihm taumelnd nach, stürzte durch das Wohnzimmer in den Flur und weiter über die Veranda nach draußen. Die feuchte Abendluft schlug ihr ins Gesicht, und sie spürte die Wärme auf Hals und Wangen pulsieren. Vor den schwarzen Tannen der Plantage hinterm Haus hing ein Nebelschleier. Der Junge war nirgends zu sehen, aber Nina hörte das trockene Knacken der Zweige, das seine Flucht durch den Wald begleitete. Sie rannte ihm nach.
Die Spitzen der Äste schlugen ihr ins Gesicht und das gelbe, trockene Gras unter den Bäumen raschelte verräterisch bei jedem ihrer Schritte, aber jetzt sah sie wenigstens die weißen Haare des Jungen zwischen den Stämmen der Bäume hervorleuchten. Der Abstand verringerte sich langsam, aber sicher.
Als Nina in vollem Lauf einem umgestürzten Baum auswich, spürte sie im gleichen Augenblick einen scharfen Schmerz im rechten Knöchel. Trotzdem bekam sie die Schulter des Jungen zu fassen. Sie drehte ihn etwas zur Seite, rutschte dann aber
wieder ab, so dass er weiter von ihr wegstolperte. Beim zweiten Mal gelang es ihr, seinen Arm zu packen und festzuhalten.
Ohne ein Wort zog sie ihn zu sich ins Gras und legte den Arm um ihn. Sein T-Shirt war hochgerutscht, und sie spürte, wie schnell und heftig sein Herz unter den Rippen schlug. Sein Atem war warm an ihrem Hals.
Dann hörte sie das Geräusch.
Es war im Grunde nur ein unbedeutendes Geräusch. Ein leises Klicken, wie wenn man sanft eine Tür schloss. Das Geräusch konnte im Prinzip von jedem der Ferienhäuser kommen, die das Tannenwäldchen säumten, dachte Nina, während sie sich und den Jungen rückwärtsgehend in den Schutz der dunklen, schweren Zweige schob. Sie sah die Ferienhäuser nicht mehr, dafür aber ihren roten Fiat, der am Anfang des kurvigen Sträßchens parkte.
Wieder hörte sie das Geräusch, und dieses Mal glaubte sie, auch Schritte zu hören. Schritte und ein Rascheln, als liefe jemand durch das hohe, gelbe Gras. Nina sah in Gedanken den Mann vom Bahnhof. Seine schmalen blauen Augen und die angespannten Kiefer. Sie glaubte sogar das rhythmische Scheppern seiner Tritte gegen die Schließfachtür hören zu können.
Hatte er Karin gefunden und seine Wut an ihr ausgelassen?
Nina sah auf die Uhr.
20.36 Uhr.
Ihre Armbanduhr ging in der Regel etwas nach. 29 Sekunden im Vergleich zu ihrem Handy, das die exakteste Uhrzeit anzeigte. Sie mochte diese kleine Abweichung, weil es ihr gefiel, so die richtige Uhrzeit ausrechnen zu können.
Nina holte tief Luft und drückte den Jungen fest an sich. Sein kleiner, warmer Körper leistete zuckend Widerstand, er gab aber keinen Laut von sich.
Sollte sie die Polizei rufen?
Nina suchte in ihrer rechten Hosentasche nach dem Handy und lauschte ins Halbdunkel. Dann schob sie die Hand in die linke Tasche. Nichts. Sie hatte es verloren. Wo und wann, wusste sie nicht.
Erneut schoss ihr das Adrenalin in den Kopf. Das Telefon war ihr einziger Kontakt in die wirkliche Welt gewesen. Zu Morten, zum Netzwerk, zu ihrer Arbeit und in diesem Moment zur Polizei. Jetzt gab es nur noch sie und den Jungen.
Plötzlich hörte sie eine Tür ins Schloss fallen.
Ihr Herz machte einen Sprung und hämmerte hart und wild unter ihrem verschwitzten T-Shirt. Es gelang ihr, aufzustehen, ohne den Jungen loszulassen.
Und dann rannte sie mit dem Jungen auf dem Arm los. Sein steifer Körper war schwer, sie spürte das zusätzliche Gewicht in Knien und Fußgelenken. Ich werde alt, dachte sie. Ich bin zu alt, um mit einem Kind auf dem Arm zu fliehen.
Sekunden später erreichte sie ihren Fiat und öffnete die Fahrertür. Durch die Blätter der kleinen Birken und Büsche, die die Einfahrt des Hauses säumten, sah sie das Sommerhaus. Nichts rührte sich, und einen Moment zweifelte sie. Hatte sie sich nur eingebildet, Schritte zu hören? Hatte der Wind im Gras geraschelt oder vielleicht Mr. Miss? Sollte sie zurückgehen und nach ihrem Handy suchen? Sollte sie es wagen? Mit einem Mal spürte sie das irrationale Bedürfnis, den stillen, toten Körper im Sommerhaus zu bewachen, bei ihm zu bleiben, ihn zu beschützen vor …
Ja, vor was? Es war zu spät. Für Karin kam jede Hilfe zu spät. Jetzt musste Nina an sich und den Jungen denken, den sie noch immer im Arm hielt. Trotzdem zögerte sie, als sie durchs trockene Laub spähte. Dann erstarrte
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