Die Lieferung - Roman
dunkelblau wie Dörrpflaumen, und sie ließ nicht los, sie ließ Sigita nicht los.
»Du hältst durch«, sagte sie. »Du hältst durch, bis wir hier fertig sind.«
Aber als das Kind kam, konnte Sigita sich nicht mehr festhalten. Sie glitt mit dem Körper weg, der nass und dunkel und warm aus ihr herauspresste, bis nur noch Kälte und Leere in ihr waren.
»Sigita …«
Julijas Stimme war weit, weit weg.
»Sie blutet«, sagte eine der anderen Krankenschwestern. »Holt einen Arzt, sofort!«
Sigita trieb weiter hinaus in die kalte, leere Dunkelheit.
Erst einen Tag später war sie wieder zu sich gekommen. In einem winzigen Raum ohne Fenster mit zwei grellen Neonröhren unter der Decke. Das Licht hatte sie geweckt. Ihre Augenlider fühlten sich schwer an wie Gummimatten, und ihr Hals tat weh. Ein Arm war mit weichen weißen Binden seitlich an den Bettrahmen gebunden, und aus einem Beutel an einem Stativ tropfte langsam Kochsalzlösung in ihre Adern.
»Bist du wach, mein Schatz?«
Jolita saß neben dem Bett. Das Licht der Neonröhren zeichnete tiefe Schatten in jede Falte ihrer bleichen Haut. Sie ist eine müde alte Frau, dachte Sigita.
»Möchtest du einen Schluck Wasser?«
Sigita nickte. Sie war sich nicht sicher, ob sie überhaupt sprechen konnte, aber schließlich ließ sie es auf einen Versuch ankommen.
»Wo ist Julija?«
Jolita hob die Bleistiftbrauen.
»Deine Großmutter?«
»Nein, die andere Julija.«
»Ich weiß nicht, wen du meinst, Schatz. Hier, trink was. Jetzt ruhst du dich noch etwas aus, bis du wieder zu Kräften kommst, und dann gehen wir nach Hause.«
In diesem Augenblick passierte es. Als Jolita nach Hause sagte, breitete sich etwas Riesiges, Schwarzes in Sigitas Kopf aus, in ihrer Brust und ihrem Bauch. Es war so scharfkantig und so böse wie etwas tatsächlich Vorhandenes, obwohl sie sehr genau wusste, dass dort nichts mehr war.
»Ist es ein Junge oder ein Mädchen?«, fragte sie.
»Darüber mach dir mal keine Gedanken«, antwortete Jolita. »Je weniger du daran denkst, desto besser. Es wird es gut haben. Das sind reiche Leute.«
Sigita spürte die Tränen, die ihr an der Nase herunterliefen. Sie rannen heiß wie Glut über ihre kalte Haut.
»Reiche Leute«, wiederholte sie, als hoffte sie, damit das Schwarze in sich zu vertreiben.
Jolita nickte. »Aus Dänemark«, sagte sie in aufmunterndem Tonfall, als wäre das etwas Besonderes.
Das Schwarze blieb in ihr.
Zwei Tage später stand Sigita in einem grauen Sweatshirt und einer Hose, die ihr seit Monaten nicht mehr gepasst hatte, neben dem Bett. Sie wartete. Das Stehen ermüdete sie, aber sie konnte noch immer nicht sitzen, und das Aufstehen hatte ihr solche Schmerzen bereitet, dass sie kein Bedürfnis verspürte, sich wieder hinzulegen. Schließlich kam Jolita zurück, in Begleitung
einer blonden Frau im weißen Kittel, die Sigita überhaupt noch nie gesehen hatte.
Die Frau gab ihr die Hand.
»Mach’s gut, Sigita, und viel Glück.«
Sigita fand es sonderbar, von einem Menschen, den sie nicht kannte, mit dem Vornamen angesprochen zu werden. Sie nickte linkisch und erwiderte den Händedruck. Die Frau überreichte Jolita einen braunen Briefumschlag.
»Wegen des zusätzlichen Aufenthaltes ist es etwas weniger«, erklärte sie. »Normalerweise sind die Mädchen nur einen Tag hier.«
Jolita nickte geistesabwesend. Sie öffnete den braunen Umschlag, schaute hinein und machte ihn wieder zu.
»Wenn ich dann noch um eine Unterschrift bitten dürfte.«
Jolita nahm den Kugelschreiber.
»Sollte ich nicht unterschreiben?«, fragte Sigita.
Jolita zögerte. »Wenn du willst«, sagte sie. »Aber ich kann das auch machen.«
Sigita schaute auf das Blatt Papier. Es war keine Adoptionserklärung. Es war eine Quittung über eine Auszahlung »Ass. Naturheilmittel für die Herstellung div. Drogen«. Die quittierte Summe belief sich auf 14.426 Litas.
Das war keine Adoption, dachte Sigita plötzlich nüchtern und völlig klar. Das war ein Handel. Fremde Menschen haben mein Kind gekauft, und dies ist mein Anteil am Geschäft.
»Kann ich es wenigstens einmal sehen?«, fragte sie. »Und die Menschen kennenlernen, die es mitnehmen werden?« Ihre Brüste pochten empfindlich. Julija hatte einen strammen Elastikverband darumgelegt, den sie mindestens eine Woche tragen sollte, damit die Milch aufhörte zu laufen.
Die Frau im weißen Kittel schüttelte den Kopf. »Sie haben gestern die Klinik verlassen. Nach unserer Erfahrung ist das das Beste
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