Die Lieferung - Roman
auch der Junge machte gehorsam Halt. Sie versuchte, Augenkontakt mit einem der Mädchen zu bekommen, doch es dauerte ein paar
Augenblicke, bis es sich umdrehte und seinen Blick erst einmal auf den Jungen richtete.
»Hey, kleiner Schatz.«
Ihre Stimme klang rau und kehlig, als spräche sie vom Grund eines Brunnens zu ihnen. Als das Kind nicht reagierte, sah sie fragend zu Nina auf.
»Ja?«
Nina holte tief Luft und nahm Anlauf. Ihre Frage kam ihr vollkommen absurd vor.
»Ich suche …«
Nina versuchte die schwimmenden Augen der Frau zu fixieren, während sie nach den richtigen Worten suchte.
»Weißt du, wo die osteuropäischen Mädchen stehen?«
Die Frau mit dem Dosenbier sah sie verblüfft und misstrauisch an. Ihre Pupillen bewegten sich ruckartig, als sie Nina betrachtete. Sie hatte die Mundwinkel tief heruntergezogen. Nina wurde bewusst, wie feindlich sie auf diese Frau wirken musste.
Ganz offensichtlich hatte die junge Frau das Gefühl, dass ihre Welt unter Beschuss geraten war durch eine Außenstehende, eine Durchschnittsdänin. Eine von denen mit festem Einkommen, Ehemann und Reihenhäuschen, die nichts Besseres zu tun hatte, als Frauen wie sie in den Dreck zu treten.
Vielleicht hielt die junge Prostituierte Nina für eine Journalistin oder eine betrogene Ehefrau, wenn nicht sogar für eine dieser Frauen, die neugierig auf die dänische Unterwelt waren. Es war ihr auf jeden Fall deutlich anzusehen, dass sie Nina nicht als Fremdenführer für das Vesterbroer Nachtleben zur Verfügung stehen würde. Ihre Augen glänzten plötzlich aggressiv.
»Warum zum Teufel willst du das wissen?«
Die Frau trat einen Schritt auf sie zu, so dass Nina ihren Atem riechen konnte.
Die Wahrheit, dachte sie. Ich sage ihr die Wahrheit, oder wenigstens ein Stückchen davon.
»Ich suche die Mutter des Jungen«, sagte sie und nahm ihn auf den Arm. »Ich muss seine Mutter finden.«
Die Frau blieb unschlüssig noch ein paar Sekunden mit angriffslustig vorgeschobenem Oberkörper stehen und sah sie trotzig an, bis der erwartete Effekt eintrat. Ihr Körper entspannte sich etwas, und sie nahm langsam einen Schluck von ihrem Bier. Dann studierte sie den Jungen mit neuerlichem Interesse.
»Mein Gott, du kleiner Schatz«, sagte sie und streichelte ihm mit einem langen, dünnen Finger die Wange.
Er drehte hastig den Kopf weg und drückte sein Gesicht an Ninas Schulter. Die Frau schüttelte verärgert den Kopf und begann ihre Freundin Richtung Istedgade zu ziehen.
»Die sind zurzeit überall«, erklärte sie noch. »Ein paar stehen in der Skelbækgade und am Halmtorv, aber bestimmt sind auch welche hier drüben in der Helgolandsgade. Die sind echt überall, du wirst eine lange Nacht vor dir haben, wenn du nicht genau weißt, wo sie ist.«
»Woher kommen sie, weißt du das?«
Nina war sich nicht sicher, ob die Frau sie noch verstanden hatte, aber bevor sie die Straßenecke erreichten, drehte ihre Freundin sich um und sah Nina an.
»Die meisten sind aus Russland«, sagte sie. »Aber es gibt auch noch andere. Die drücken die Preise. Das ist eine verdammte Scheiße!«
Die Gegensprechanlage summte . Sigita zuckte zusammen.
»Evaldas Gužas von der Vermisstenstelle. Können wir hochkommen?«
Sie drückte den Türöffner. Ihr Herz hämmerte so heftig, dass ihr T-Shirt bei jedem Schlag zitterte. Sie haben ihn gefunden, dachte sie. Maria, heilige Muttergottes. Lass es so sein. Sie haben ihn gefunden, und es geht ihm gut.
Als sie Gužas und seinen Begleiter hereinließ, sah sie gleich, dass es nicht diese Art von Neuigkeit war, mit der er kam. Trotzdem konnte sie die Frage nicht unterdrücken.
»Haben Sie ihn gefunden?«
»Nein«, antwortete Gužas. »Leider nicht. Aber wir sind möglicherweise auf eine Spur gestoßen. Das hier ist mein Kollege Martynas Valionis. Als ich ihm von dem Fall erzählte, haben bei ihm ein paar Glocken geklingelt.«
Valionis gab ihr die Hand.
»Dürfen wir uns kurz setzen?«
»Ja, selbstverständlich«, sagte Sigita höflich, während in ihr alles schrie, dass sie doch endlich zur Sache kommen sollten.
Valionis nahm auf dem weißen Sofa Platz, legte umständlich seine Aktentasche so auf den Couchtisch, dass sie mit der Tischkante abschloss, und nahm eine Kunststoffhülle heraus.
»Ich würde Ihnen gerne ein paar Bilder zeigen, Frau Ramoškienė. Erkennen Sie eine oder mehrere dieser Frauen wieder?«
Bei den Fotos handelte es sich nicht um glänzende Porträtfotos,
es waren ungenaue Ausdrucke
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