Die Lieferung - Roman
eines schlechten Farbdruckers. Er reichte sie ihr nacheinander.
»Nein«, sagte sie beim ersten Bild. Und beim zweiten.
Auf dem dritten Bild erkannte sie die Frau mit der Schokolade.
Sigita griff so fest nach dem Blatt Papier, dass sie es zerknitterte.
»Das ist sie«, erklärte sie. »Das ist die Frau, die mir Mikas weggenommen hat.«
Valionis nickte zufrieden.
»Barbara Woronska«, sagte er. »Sie ist Polin, 1972 in Krakau geboren. Sie lebt aber vermutlich schon einige Jahre in Litauen. Offiziell ist sie als Sekretärin in einer Firma für Sicherheit und Alarmanlagen angestellt.«
»Und inoffiziell?«
»Wir wurden erstmals vor zwei Jahren auf sie aufmerksam, als sie ein belgischer Geschäftsmann anzeigte, weil sie versucht hätte, ihn zu erpressen. Die Firma setzt sie offenbar dafür ein, besonders ausländischen Kunden Gesellschaft zu leisten, solange sie sich in Vilnius aufhalten.«
»Sie ist eine Prostituierte?« Das hätte Sigita als Letztes vermutet.
»Das wird der Sache sicher nicht ganz gerecht. Wir haben eher den Eindruck, dass sie als eine Art Lockvogel fungiert. Jedenfalls hat sie einen auffällig hohen Verbrauch an rezeptpflichtigen Augentropfen.«
Sigita konnte ihm nicht ganz folgen.
»Augentropfen?«
»Ja. Und zwar Augentropfen mit der speziellen Nebenwirkung, dass man sehr schnell das Bewusstsein verliert, wenn man sie beispielsweise mit Alkohol einnimmt. Es ist leider nichts Ungewöhnliches, dass ein unternehmungslustiger Geschäftsmann, der das Nachtleben von Vilnius erkunden will,
stattdessen um seine Oyster Rolex, sein Bargeld und seine Kreditkarten gebracht wird und dann in irgendeinem billigen Hotelzimmer zu sich kommt. Frau Woronska und ihre Hintermänner haben diese Technik offensichtlich noch weiter perfektioniert. Während der Mann bewusstlos ist, arrangieren sie ›kompromittierende Fotos‹, wie es so schön heißt, und versuchen hinterher, ihn zu einem Exportabkommen zu … nennen wir es mal: zu äußerst vorteilhaften Bedingungen zu erpressen. Aber der Belgier ließ sich nicht einschüchtern und kam zu uns. Frau Woronska war eine der beiden Beteiligten auf den arrangierten Fotos. Die andere war ein kleines Mädchen, kaum älter als zwölf Jahre. Es ist durchaus verständlich, dass die wenigsten, die so erpresst wurden, den Mut hatten, zur Polizei zu gehen.«
Kaum älter als zwölf… Sigita versuchte den Gedanken beiseitezuschieben. Das passte so gar nicht zu der gut aussehenden Frau in dem Popelinemantel und dem Kopftuch. Sah man den Leuten nicht an, wenn sie sich mit … so etwas beschäftigten?
Sie starrte auf das Bild. Es war kein klassisches Polizeifoto, wie es bei Festnahmen gemacht wird. Barbara Woronska sah nicht direkt in die Kamera, sondern hatte den Kopf leicht nach links gedreht, was ihren langen, eleganten Hals zur Geltung brachte. Die Auflösung war gering, als handelte es sich um eine etwas zu gut gemeinte Vergrößerung, und ihr Gesichtsausdruck war … irgendwie merkwürdig. Leicht geöffnete Lippen, glänzende, starre Augen. Sigita war überzeugt, dass es sich um einen Ausschnitt eines »kompromittierenden Fotos« handelte.
»Aber wieso … Was veranlasst Sie zu der Annahme, dass sie Mikas entführt haben könnte?«
»Zwei Dinge«, erklärte Valionis. »Zum einen hatte der Belgier einen wahnsinnshohen Promillegehalt im Blut, als er zu
uns kam, obgleich er behauptete, nur einen einzigen Drink in Frau Woronskas bezaubernder Gesellschaft getrunken zu haben. Der untersuchende Arzt entdeckte Läsionen in der Speiseröhre, die darauf schließen ließen, dass ihm eine Magensonde eingeführt worden ist, während er bewusstlos war. So gelangt der Alkohol ohne Umwege dorthin, wo er hinsoll. Wenn man bereit ist, eine lebensbedrohliche Alkoholvergiftung des Opfers in Kauf zu nehmen.«
Sigitas Kopf fuhr hoch.
»Aber … das ist doch …«
Evaldas Gužas nickte. »Ja. Ich bedaure, dass Ihnen keiner geglaubt hat. Wir haben leider keine Beweise, dass es sich in Ihrem Fall genauso zugetragen hat, da man zu diesem Zeitpunkt nicht mehr unterscheiden kann, ob die Läsionen bei Ihnen vom Auspumpen des Magens oder von einer Sonde stammen. Aber alle, mit denen ich gesprochen habe, haben Sie als äußerst verantwortungsvollen und nüchternen Menschen beschrieben, also …« Er ließ die Schlussfolgerung unausgesprochen in der Luft hängen.
Sigitas generelle Mutlosigkeit ließ etwas nach. Wenigstens glaubten sie ihr endlich. Zumindest nahmen sie sie ernst. Sie sah nur noch
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