Die Lilie im Tal (German Edition)
hinauf und fühlten alle, daß sich etwas Ernstes ereignet hatte. Sie wünschte durchaus nicht, mit mir allein zu sein. Immerhin war ich ihr Gast.
»Nanu – und Ihr Pferd?« sagte der Comte, als wir draußen waren. »Sie werden schon sehen«, sagte die Comtesse, »ich bin immer im Unrecht, ob ich an Ihr Pferd denke oder nicht.« – »Nun ja«, sagte er, »man muß jedes Ding zu seiner Zeit tun.« – »Ich gehe schon«, sagte ich, denn dieser kalte Empfang fing an mir unerträglich zu werden. »Ich allein kann es leiten und richtig unterbringen. Mein Groom kommt im Wagen von Chinon und wird es verpflegen.« – »Kommt der Groom auch aus England?« fragte sie. »Es gibt sonst nirgends anständige«, antwortete der Comte, der vergnügt wurde, da er seine Frau traurig sah.
Die kühle Zurückhaltung seiner Frau reizte ihn zum Widerspruch, er erdrückte mich mit seiner Liebenswürdigkeit. Da erfuhr ich, wie drückend die Freundschaft eines Ehemannes, ist. Denken Sie nicht etwa, daß ihre Freundlichkeiten eine edle Seele dann vergiften, wenn ihre Frau uns die Liebe schenkt, die ihnen vorenthalten wird; nein, sie werden hassenswert und unerträglich an dem Tage, wo diese Liebe im Schwinden ist. Das gute Einvernehmen mit dem Gatten, das die nötige Vorbedingung für derlei Liebesbeziehungen ist, erscheint dann als bloßes Mittel; es fällt einem zur Last wie jedes Mittel, das der Zweck nicht mehr heiligt.
»Mein lieber Felix«, sagte der Comte, indem er meine Hände ergriff und sie herzlich drückte, »nehmen Sie es Madame de Mortsauf nicht übel, Frauen müssen alle einmal garstig sein; ihre Schwäche entschuldigt sie. Sie können natürlich nicht die Gleichmäßigkeit der Laune haben, die bei uns in Charakterstärke begründet ist. Sie hat Sie wirklich sehr gern, ich weiß es, aber ...«
Während dieser Worte des Comte entfernte sich Madame de Mortsauf unauffällig, so daß wir beide allein blieben.
»Felix«, sagte er dann leise, während er seiner Frau nachsah, die mit ihren Kindern zum Schloß zurückkehrte, »ich weiß wirklich nicht, was mit Madame de Mortsauf vorgeht. Seit sechs Wochen ist ihr Wesen wie umgewandelt. Sie, die sonst so sanft, so ergeben war, ist jetzt unglaublich mürrisch.«
Manette erzählte mir später, daß die Comtesse einer tiefen Erschlaffung verfallen war, die sie für die Quälereien des Comte unempfindlich machte. Da er kein geduldiges Ziel mehr fand, das er mit seinen Pfeilen durchbohren konnte, wurde der Comte immer unruhiger, wie ein Kind, welches das arme Insekt, das es quält, nicht mehr zucken sieht. Jetzt brauchte er einen Vertrauensmann, wie der Henker einen Helfer braucht.
»Versuchen Sie doch«, sagte er nach einer Weile, »Madame de Mortsauf ein wenig auszuforschen. Eine Frau hat vor ihrem Mann immer Geheimnisse, aber Ihnen wird sie vielleicht den Grund ihres Kummers anvertrauen. Sollte es mich auch die Hälfte meiner Tage und die Hälfte meines Vermögens kosten, ich würde alles opfern, um sie glücklich zu sehen. Sie ist in meinem Leben so unentbehrlich! Wenn ich in meinem Alter diesen Engel nicht mehr zur Seite hätte, wäre ich der unseligste Mensch; ich möchte gern ruhig sterben. Sagen Sie ihr, daß sie mich nicht mehr lange zu ertragen braucht; mit mir – Felix, mein armer Freund – mit mir geht's zu Ende, ich weiß es, ich verberge die traurige Wahrheit; warum meine Lieben im voraus betrüben? Immer der Magenpförtner, lieber Freund! Ich habe nun endlich den Grund meiner Krankheit erkannt: die Überempfindsamkeit hat mich gemordet. In der Tat schlagen alle Erregungen auf die gastrischen Nerven ...« – »So daß Leute von Gemüt am Magen zugrunde gehen!« sagte ich lächelnd. »Lachen Sie nicht, Felix, nichts ist wahrer! Zu heftige seelische Schmerzen überreizen den Nervus sympathicus. Diese Überspannung der Empfindsamkeit ruft eine ständige Reizung der Magenschleimhäute hervor. Wenn dieser Zustand andauert, hat er zunächst unmerkliche Verdauungsstörungen zur Folge: die Magensäfte verschlechtern sich, der Appetit schwindet, und die Verdauung wird unregelmäßig. Bald machen sich heftige Schmerzen fühlbar, sie werden immer schlimmer und mit jedem Tage häufiger, und dann erreicht die allgemeine Zerrüttung ihren Gipfel, als ob sich in den Speisebrei ein Gift mischte. Die Schleimhaut verdickt sich, die Klappe am Magenpförtner wird hart, und es entsteht eine Drüsenverhärtung, die tödlich ist. Und dort, mein Lieber, stehe ich jetzt: die Verhärtung
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