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Die Lilie im Tal (German Edition)

Die Lilie im Tal (German Edition)

Titel: Die Lilie im Tal (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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einen Kranken, den sie bemitleidete.
    »Sie sind ja sehr früh spazierengegangen«, sagte der Comte. »Da müssen Sie wohl sehr hungrig sein, Sie, dessen Magen noch nicht ruiniert ist.«
    Dieser Satz, der auf den Lippen der Comtesse nicht das Lächeln einer eingeweihten Schwester hervorrief, bewies mir vollends, wie unhaltbar und lächerlich meine Lage sei.
    Ich konnte unmöglich meine Tage in Clochegourde und die Nächte in Saint-Cyr zubringen. Arabella hatte mit meinem Zartgefühl und mit der Seelengröße Madame de Mortsaufs gerechnet. Während dieses endlosen Tages fühlte ich, wie schwer es ist, der Freund einer Frau zu werden, die man lange begehrt hat. So einfach dieser Übergang ist, wenn die Jahre ihn vorbereitet haben – in der Jugend bedeutet er eine Krankheit. Ich schämte mich, ich fluchte der Wollust; ich wäre glücklich gewesen, wenn Madame de Mortsauf mein Blut gefordert hätte. Ich konnte ihre Rivalin nicht nach Herzenslust zerfleischen; sie mied es, von ihr zu sprechen, und Arabella zu verleumden, wäre eine Gemeinheit gewesen, die mich Henriette verächtlich gemacht hätte, weil sie bis in die geheimsten Falten ihres Herzens großzügig und edel war. Nach fünf Jahren trautesten, wohligsten Einvernehmens wußten wir uns nichts zu sagen; unsere Worte entsprachen nicht unsern Gedanken, wir versteckten einander unsere heftigen Schmerzen, während sonst das Unglück unser treuester Vermittler gewesen war. Henriette heuchelte Fröhlichkeit, für sich und für mich; aber sie war traurig. Obwohl sie fortwährend versicherte, daß sie meine Schwester sei, und obwohl sie ein Weib war, fand sie kein Mittel, unserer Unterhaltung aufzuhelfen, und wir verharrten lange in beklemmendem Schweigen. Sie vergrößerte meine innere Qual, indem sie zu glauben vorgab, sie sei das einzige Opfer dieser Lady.
    »Ich leide mehr als Sie«, sagte ich in einem Augenblick, als der Schwester eine zu weibliche Ironie entschlüpfte. »Wieso?« antwortete sie in dem hoheitsvollen Ton, den Frauen annehmen, wenn man ihre Gefühle herabsetzen will. »Nun ja, das ganze Unrecht ist auf meiner Seite.«
    Es kam ein Zeitpunkt, wo die Comtesse mir gegenüber einen kalten und gleichgültigen Ton anschlug, der mir das Herz zerriß. Ich beschloß, abzureisen. Abends auf der Terrasse sagte ich der versammelten Familie Lebewohl. Alle folgten mir bis zum Rasenplatz, wo mein Pferd ungeduldig stampfte, weshalb sie alle ein wenig zurückblieben. Als ich die Zügel ergriffen hatte, kam sie auf mich zu.
    »Wir wollen ein Stückchen allein auf der Avenue zu Fuß gehen«, sagte sie.
    Ich bot ihr meinen Arm, wir durchschritten langsam die Höfe, als freuten wir uns des gemeinsamen Rhythmus unserer Bewegungen, und kamen an eine Baumgruppe, die eine Ecke der äußern Umfriedigung ausfüllte.
    »Leben Sie wohl, mein Freund!« sagte sie und stand still – und legte ihren Kopf an meine Brust und ihre Arme um meinen Hals. »Leben Sie wohl – wir werden einander nicht wiedersehen! Gott hat mir die traurige Gabe verliehen, die Zukunft zu schauen; erinnern Sie sich nicht des Schreckens, der mich eines Tages befiel, als Sie so schön, so jung wiederkamen und ich Sie mir den Rücken zuwenden sah, wie heute, wo Sie Clochegourde verlassen, um nach der Grenadière zu gehen? Nun, heute nacht habe ich abermals einen Blick in unser Geschick werfen können. Mein Freund, wir sprechen zum letztenmal miteinander. Ich werde Ihnen kaum mehr einige Worte sagen können, denn es wird nicht mehr mein ganzes Ich sein, das zu Ihnen spricht. Der Tod hat schon etwas in mir vernichtet. Sie werden meinen Kindern ihre Mutter genommen haben! Sie müssen sie ihnen ersetzen, Sie können es! Jacques und Madeleine lieben Sie, als hätten sie immer Ihretwegen gelitten.« – »Sterben?« sagte ich entsetzt, während ich sie anblickte und das trockene Feuer ihrer glänzenden Augen sah, von dem man allen, die es nicht bei ihren von dieser schrecklichen Krankheit befallenen Lieben gesehen haben, nur einen Begriff geben kann, wenn man ihre Augen mit polierten Silberkugeln vergleicht. »Sterben? ... Henriette, ich befehle dir, zu leben! Du hast mir früher Gelübde abverlangt; heute fordere ich eins von dir: Schwöre mir, daß du Origet konsultieren und ihm in allem gehorchen willst ...« – »Wollen Sie sich denn der göttlichen Güte widersetzen?« unterbrach sie mich mit dem Schrei der Verzweiflung, die sich empört, weil sie mißverstanden wird. – »Lieben Sie mich denn nicht genug, um

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