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Die Lilie im Tal (German Edition)

Die Lilie im Tal (German Edition)

Titel: Die Lilie im Tal (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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Sonne genommen ist.«
    Es gelang ihr, mir Liebesbeteuerungen zu entreißen, die sie mit trunkener Freude erfüllten – und wahrlich, was soll man einer Frau sagen, die am Morgen weint! Wenn wir ihr am Abend vorher nicht widerstanden haben, müssen wir wohl oder übel am Tag darauf lügen; denn die männliche Moral macht in Liebesdingen aus der Lüge eine Pflicht.
    »Gut – ich will großmütig sein«, sagte sie, ihre Tränen trocknend. »Kehre zu ihr zurück! Ich will dich nicht der Gewalt meiner Liebe, sondern deinem eigenen freien Willen zu verdanken haben. Wenn du zurückkommst, so werde ich erlauben, daß du mich ebensosehr liebst, wie ich dich liebe – was mir immer unmöglich schien.«
    Sie überredete mich, nach Clochegourde zurückzukehren. Nur einem Manne, der wie ich vom Glück gesättigt war, konnte es entgehen, welche Torheit ich damit beging. Weigerte ich mich, nach Clochegourde zu gehen, so sprach ich Lady Dudley den Sieg über Henriette zu und mußte mich von ihr nach Paris entführen lassen. Andererseits – beleidigte ich nicht Madame de Mortsauf, indem ich zu ihr zurückkehrte? (Und in diesem Fall mußte ich nur noch sicherer zu Arabella zurückkehren!) Hat eine Frau jemals solche Verbrechen gegen die Liebe verziehen? Wenn sie nicht ein vom Himmel gestiegener Engel ist und mehr als die Liebe, die gen Himmel strebt, so muß eine liebende Frau es vorziehen, ihren Geliebten Todespein ausstehen zu sehen, als ihn mit einer andern glücklich zu wissen. Je mehr sie liebt, desto mehr muß sie sich verletzt fühlen. Deshalb begab ich mich, als ich Clochegourde verließ, um nach der Grenadière zu gehen, in eine Lage, der die eigentliche Liebe meiner Wahl nicht gewachsen war, die aber meiner zufälligen Liebe zugute kam. Die Marquise hatte alles sorgfältig berechnet, sie gestand mir später, daß sie, vor der Begegnung mit Madame de Mortsauf in der Heide, entschlossen gewesen sei, mich durch Streifzüge um Clochegourde zu kompromittieren.
    Als ich die Comtesse begrüßte, die blaß und niedergeschlagen war, wie jemand, der eine schmerzvolle, schlaflose Nacht gehabt hat, da regte sich in mir plötzlich – nicht das Taktgefühl, aber der Spürsinn, der junge edle Herzen die ganze Tragweite der Handlungen erkennen läßt, die in den Augen der Masse gleichgültig, nach den Gesetzen großer Seelen aber verbrecherisch sind. Gleich einem Kinde, das spielend und blumenpflückend in den Abgrund geraten ist und mit Schaudern merkt, daß es ihm unmöglich sein wird, wieder herauszukommen, das zwischen sich und dem menschenbewohnten Land unüberwindliche Hindernisse sieht, sich bei hereinbrechender Nacht ganz einsam fühlt und wildes Geheul hört – solch einem Kinde gleich verstand ich alsbald, daß wir durch Welten voneinander getrennt waren. Ein großer Jammer schwoll in unser beider Seelen wie ein Widerhall des schauerlichen ›Consummatum est‹, das am Karfreitag in den Kirchen dröhnt, zu derselben Stunde, da der Heiland starb, und das junge Seelen eisig anpackt, denen die Religion eine erste Liebe ist. Alle Illusionen Henriettes waren mit einem Schlage erstorben; ihr Herz hatte eine Leidensgeschichte durchgemacht. Sie, die den Genuß immer scheu gemieden hatte, die nie in seinen betäubenden Umarmungen gelegen hatte: erriet sie heute die Wollüste erwiderter Liebe und wagte nicht, mich anzusehen? Denn sie entzog mir das Licht, das seit sechs Jahren mein Leben überstrahlte. Sie wußte also, daß die Quelle des Lichts, das in unsern Augen leuchtete, von unserer Seele gespeist war, daß die Blicke nur als Weg dienten, um einander seelisch zu durchdringen, um eins zu werden, sich wieder zu trennen und miteinander zu spielen, wie Frauen, die ohne Mißtrauen einander alles sagen. Ich empfand bitter meine Schuld, daß ich unter dieses Dach, wo die Sinnesfreude unbekannt war, mit einem Gesicht eintrat, auf dem die Flügel des Genusses ihren schillernden Staub zurückgelassen hatten. Wenn ich tags zuvor Lady Dudley allein hätte weggehen lassen, wenn ich nach Clochegourde zurückgekehrt wäre, wo Henriette mich vielleicht erwartete – vielleicht ... nun ja: vielleicht hätte Madame de Mortsauf sich nicht so unerbittlich vorgenommen, nur noch meine Schwester zu sein. Aus allen ihren Liebenswürdigkeiten sprach ein übertriebener Kraftaufwand; sie zwang sich gewaltsam in ihre Rolle. Während des Frühstücks hatte sie tausend kleine Aufmerksamkeiten für mich, demütigende Aufmerksamkeiten, sie pflegte mich wie

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