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Die Lilie im Tal (German Edition)

Die Lilie im Tal (German Edition)

Titel: Die Lilie im Tal (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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Geschäftsmannes, sie studiert das Gesetzbuch, erfaßt die Technik des Geldwesens und beherrscht die Kasse des Bankiers; sie, die von Haus aus fahrig und verschwenderisch ist, wird nicht mehr fehlgehen und kein Goldstück verschwenden. Sie wird zugleich Mutter, Erzieherin und Arzt, und all das mit einer leichten glücklichen Anmut, die bis ins kleinste hinein ihre unendliche Liebe atmet: sie vereinigt in sich die schätzenswertesten Vorzüge der Frauen aller Länder und verbindet diese Mischung durch ihren Geist, diese ganze französische Pflanze, die alles belebt, erlaubt, rechtfertigt und die Abwechslung in die Eintönigkeit eines Gefühls hineinträgt, das nur in einer Zeitform gern konjugiert wird. Die Französin liebt immer, ohne nachzulassen oder müde zu werden, in jedem Augenblick, gleichviel ob sie in Gesellschaft oder ob sie allein ist. In Gegenwart Fremder findet sie einen Tonfall, der nur in einem Ohr widerhallt; selbst ihr Schweigen ist beredt; sie weiß einen mit gesenkten Augen anzuschauen. Sind ihr gelegentlich einmal Wort- und Augensprache untersagt, so schreibt ihr Fuß ihre Gedanken in den Sand. Ist sie allein, so offenbart sie selbst im Traum ihre Leidenschaft; kurz, sie unterwirft ihrer Liebe die ganze Welt. Die Engländerin dagegen unterwirft der Welt ihre Liebe. Sie ist durch ihre Erziehung an eisige Zurückhaltung und das steif egoistische britische Wesen gewöhnt, von dem ich sprach; so ist es ihrem Herzen ein leichtes, sich mechanisch zu öffnen und zu schließen wie eine englische Maschine. Sie besitzt eine undurchdringliche Maske, die sie mit der größten Seelenruhe vorbindet oder ablegt. Leidenschaftlich wie eine Italienerin, wenn niemand sie sieht, wird sie vornehm kühl, sobald Leute zugegen sind. Da kommen dem angebetetsten Manne Zweifel an seiner Macht, wenn er die völlige Unbeweglichkeit ihrer Züge, die unerschütterliche Ruhe ihrer Stimme, die unbedingte Sicherheit des Auftretens wahrnimmt, die der Engländerin – außerhalb des Boudoirs! – eigen ist. In solchen Augenblicken grenzt die Verstellungskunst hart an Gleichgültigkeit, die Engländerin hat alles vergessen! Fürwahr, die Frau, die ihre Liebe wie ein Kleid ablegen kann, berechtigt zur Annahme, daß sie ihre Liebe auch ebensoleicht wechseln kann. Der Stolz des Mannes bäumt sich dagegen auf, die Frau ihre Liebe so aufzunehmen, unterbrechen und wieder aufnehmen zu sehen, als wäre sie weiter nichts als eine Stickerei! Diese Frauen sind zu sehr Herr über sich selbst, um einem ganz zu gehören; sie messen der Gesellschaft eine zu große Bedeutung bei, als daß unsere Herrschaft über sie vollkommen sein könnte. Wo die Französin den Geduldigen mit einem Blick vertröstet und ihrem Unwillen gegen Eindringlinge in hübschen Neckereien Luft macht, verharrt die Engländerin in tiefem Schweigen, das reizt und beleidigt. Diese Frauen haben so sehr die Gewohnheit, bei jeder Gelegenheit auf einem Piedestal zu stehen, daß die Allgewalt der Mode sich selbst auf ihre Freuden erstreckt. Wer die Zurückhaltung übertreibt, muß auch die Liebe übertreiben, so glauben wenigstens die Engländerinnen. Ihnen ist die Form alles, ohne daß die Liebe zur Form jedoch bei ihnen zum Kunstsinn wurde. Man kann sagen, was man will: der Unterschied zwischen Protestantismus und Katholizismus erklärt den Gegensatz, der die Seele der Französin so hoch über die kühl berechnende Seele der Engländerin stellt. Der Protestantismus zweifelt, er untersucht und tötet den Glauben; er bedeutet also den Tod für die Kunst und die Liebe. Wo die Gesellschaft herrscht, müssen die Menschen, die ihr angehören, gehorchen; aber Liebende fliehen sie, ihnen ist sie unerträglich. Sie werden verstehen, wie tief ich mich gekränkt fühlte, als ich erkannte, daß Lady Dudley der Gesellschaft nicht entraten könne und daß ihr der echt englische Umschwung von einer Verfassung zur andern so geläufig sei. Sie brachte nicht etwa der Gesellschaft ein Opfer; nein, ihr Wesen offenbarte sich von selbst in zwei entgegengesetzten Gewohnheiten. Wenn sie liebte, kannte sie keine Grenzen; keine Frau aus irgendeinem Lande wäre ihr gleich gewesen, sie war ein ganzes Serail. Aber kaum war der Vorhang auf diese zauberische Traumszene gefallen, so verlor sie selbst die Erinnerung daran. Sie erwiderte keinen Blick, kein Lächeln; sie glich der Frau des Diplomaten, die Worte und Bewegungen schön abrunden muß; ihr Gleichmut machte mich ungeduldig, ihre Förmlichkeit schien mich

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