Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Lilie im Tal (German Edition)

Die Lilie im Tal (German Edition)

Titel: Die Lilie im Tal (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
Vom Netzwerk:
muß. Mein Freund, beweisen Sie mir doch, daß ich nicht sterben kann; nicht, um alles betrogen; sterben kann! Sie glauben alle, daß der Durst mir die heftigsten Schmerzen verursache; o ja, ich leide brennenden Durst, mein Freund, es tut mir weh, das Wasser der Indre zu sehen; aber mein Herz ist von brennenderem Durst verzehrt: mich dürstet nach dir!« sagte sie mit erstickter Stimme und nahm meine Hände in die ihren, glühenden, und zog mich an sich, um mir diese Worte ins Ohr zu flüstern. »Meine Todespein war, dich nicht zu sehen! Hast du mir nicht befohlen, zu leben? Ich will auch reiten lernen, ich will alles kennen: Paris, Feste, Freuden!«
    Ach, Natalie! dieser jammervolle Schrei, den die Grobheit der Sinne aus der Entfernung kalt erscheinen läßt, gellte in des alten Priesters und meinen Ohren: der Klang dieser herrlichen Stimme malte die Kämpfe eines ganzen Lebens, die Seelenpein einer wahren, getäuschten Liebe. Die Comtesse stand ungeduldig auf, wie ein Kind, das nach einem Spielzeug verlangt. Als der Beichtvater sein Beichtkind in diesem Zustande sah, fiel der arme Mann plötzlich auf die Knie, faltete die Hände und murmelte Gebete.
    »Ja, leben!« sagte sie und hieß mich aufstehen, um sich auf mich zu stützen, »von Wirklichkeiten, nicht von Lügen leben! Alles in meinem Leben war Lüge! Ich habe sie in den letzten Tagen gezählt, diese Betrügereien. Ist es möglich, daß ich sterbe, ich, die ich nie gelebt habe? Ich, die ich nie jemanden iri der Heide abgeholt habe!« Sie hielt inne, schien zu lauschen und spürte durch die Wände irgendeinen Geruch. »Felix, die Winzerinnen essen jetzt, und ich, ich, die Herrin«, sagte sie mit Kinderstimme, »ich leide Hunger. So ist es auch mit der Liebe. Die dort sind glücklich.« – »Kyrie eleison!« sagte der arme Abbe, der mit gefalteten Händen, den Blick nach oben gerichtet, seine Litaneien betete.
    Sie warf ihre Arme um meinen Hals, küßte mich leidenschaftlich, preßte mich an sich und sagte: »Sie entrinnen mir nicht mehr. Ich will geliebt sein! Ich werde Torheiten begehen wie Lady Dudley. Ich werde Englisch lernen, um recht gut ›My Dee‹ sagen zu können.«
    Sie nickte mir mit dem Kopf zu, wie früher, wenn sie mich allein ließ und mir bedeuten wollte, daß sie gleich wiederkäme.
    »Wir essen zusammen«, sagte sie. »Ich will Manette benachrichtigen ...« Ein Ohnmachtsanfall unterbrach sie; ich legte sie völlig angekleidet aufs Bett. »Sie haben mich schon einmal so getragen«, sagte sie, als sie die Augen aufschlug. Sie war sehr leicht, aber vor allem sehr fieberisch. Während ich sie trug, fühlte ich, daß ihr ganzer Körper glühte. Monsieur Deslandes trat ein und war erstaunt, das Zimmer so geschmückt zu finden; aber mein Anblick schien ihm alles zu erklären. »Man leidet viel, bis man stirbt«, sagte sie mit veränderter Stimme.
    Er setzte sich, befühlte den Puls der Kranken, stand rasch auf, sprach leise zum Priester und ging hinaus. Ich folgte ihm.
    »Was wollen Sie tun?« fragte ich. »Ihr einen furchtbaren Todeskampf ersparen«, sagte er. »Wer hätte so viel Zähigkeit erwarten können? Daß sie überhaupt noch lebt, können wir uns nur durch die Art, wie sie immer gelebt hat, erklären. Das ist der einundzwanzigste Tag, daß die Comtesse weder gegessen noch getrunken, noch geschlafen hat.«
    Monsieur Deslandes rief Manette, der Abbé Birotteau führte mich in den Garten.
    »Wir wollen den Arzt handeln lassen«, sagte er. »Mit Manettes Hilfe wird er sie in einen Opiumrausch hüllen ... Nun, Sie haben es gehört ... wenn man sie überhaupt für diese Wahnsinnsregungen verantwortlich machen kann.«
    »Nein«, sagte ich, »das ist sie nicht mehr.«
    Ich war vor Schmerz ganz verblödet, mit jedem Augenblick nahmen die Einzelheiten dieser Szene größere Dimensionen an. Ich lief durch die kleine untere Tür der Terrasse und setzte mich in das Boot, um mich zu verbergen und allein an meinen Gedanken zu zehren. Ich suchte mich loszureißen von der Kraft, die doch mein Leben selbst war: ein Martyrium, das dem gleicht, das Tataren über Ehebrecher verhängen: Sie legen ein Glied des Schuldigen in einen Stock und geben ihm ein Messer. Er muß es abschneiden, wenn er nicht verhungern will. Mein Leben war verfehlt. Die Verzweiflung gab mir die widersinnigsten Gedanken ein. Bald wollte ich mit ihr sterben, bald mich in der Meilleraye, einem neugegründeten Trappistenkloster, einschließen. Mein getrübter Blick sah die äußern Dinge

Weitere Kostenlose Bücher