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Die Lilie im Tal (German Edition)

Die Lilie im Tal (German Edition)

Titel: Die Lilie im Tal (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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strahlte es eine innere Glut aus, dem flüchtigen Goldschimmer vergleichbar, der an heißen Tagen über den Feldern schwebt, Ihre hohlen Schläfen, ihre eingefallenen Wangen zeigten den Knochenbau ihres Kopfes, und das Lächeln der weißen Lippen glich entfernt dem Grinsen des Todes. Das auf der Brust überkreuzte Kleid verriet die Magerkeit ihrer einst so schönen Büste. Ihr Gesichtsausdruck sagte genug: sie wußte, daß sie verändert war; es war Verzweiflung in ihrem Blick. Das war nicht mehr meine liebreizende Henriette noch die erhabene und heilige Madame de Mortsauf. Sie schien nur hoch das namenlose Etwas, von dem Bossuet spricht, das mit dem Nichts rang und das Hunger und getäuschte Hoffnungen in den Verzweiflungskampf gegen den Tod trieben. Sie erriet meine schmerzliche Überraschung, gerade weil ich mich bemühte, sie zu verbergen. Ihre farblosen Lippen verzogen sich über ihren hungrigen Zähnen zu einem erzwungenen Lächeln, wie es die Ironie der Rache, die Erwartung der Freude, die Trunkenheit der Seele und die Wut der Enttäuschung findet.
    »Das ist mein Tod, mein armer Felix«, sagte sie, »und Sie lieben den Tod nicht. Der schreckliche Tod! Der Tod, vor dem jedes Geschöpf, selbst der unerschrockenste Liebhaber zurückbebt! Hier hört die Liebe auf, ich wußte es wohl. Lady Dudley wird Sie nie über ihr verändertes Aussehen erstaunt sehen. Ach, warum habe ich Sie so sehr herbeigesehnt, Felix – nun sind Sie endlich gekommen, und ich lohne Ihnen dieses Opfer mit dem furchtbaren Schauspiel, das den Comte de Rancé zum Trappisten machte – ich, die ich doch in Ihrer, Erinnerung schön und groß bleiben wollte, die ich wie eine unverwelkliche Lilie dort leben wollte ... Ich nehme Ihnen Ihren Traum. Wahre Liebe berechnet nicht; aber fliehen Sie nicht, bleiben Sie! Monsieur Origet hat mich heute morgen viel wohler gefunden; ich werde zum Leben zurückkehren, ich werde unter Ihren Blicken gesunden. Und wenn ich erst ein wenig gekräftigt bin und etwas Nahrung zu mir nehmen kann, werde ich wieder schön; ich bin ja kaum fünfunddreißig Jahre alt, ich kann noch viele schöne Jahre verleben. Das Glück macht wieder jung, ich will das Glück kennen! Ich habe wonnige Pläne geschmiedet. Wir lassen sie hier in Clochegourde und reisen zusammen nach Italien.«
    Tränen traten in meine Augen, ich wandte mich zum Fenster, als wollte ich die Blumen bewundern. Der Abbé Birotteau stürzte auf mich zu und beugte sich über den Strauß. »Keine Tränen!« flüsterte er mir ins Ohr.
    »Henriette, lieben Sie denn unser schönes Tal nicht mehr?« sagte ich, um meine unvermittelte Bewegung zu begründen. »Doch!« antwortete sie und führte mit einer kosenden Bewegung ihre Stirn an meine Lippen, »aber ohne Sie ist es mir verderblich ... Ohne dich!« verbesserte sie sich und streifte meine Ohren mit ihren heißen Lippen, um die zwei Worte wie zwei Seufzer hineinzuhauchen.
    Ich war entsetzt über diese leidenschaftliche Liebkosung, die den schrecklichen Reden der beiden Abbés recht gab. In diesem Augenblick zerrann mein Staunen, ich konnte wieder klar denken; aber mein Wille war nicht stark genug, um das nervöse Zucken zu unterdrücken, das mich während dieser ganzen Szene nicht verließ. Ich hörte hin, ohne zu antworten, oder vielmehr: ich antwortete mit einem starren Lächeln und beifälligem Nicken, um sie nicht zu reizen. Ich ging mit ihr um wie eine Mutter mit ihrem Kind. Nachdem mir die Wandlung in ihrem Wesen aufgefallen war, bemerkte ich, daß die Frau, die früher so hoheitsvoll und erhaben war, in ihrem Verhalten, in ihrer Stimme, ihrem Benehmen, ihren Blicken, in Worten und Gedanken die naive Unwissenheit eines Kindes äußerte, seine unschuldige Anmut, seinen Drang nach Bewegung und seine tiefe Sorglosigkeit gegen alles, was nicht sein Begehren oder es selbst ist, kurz, alle Schwächen, die das Kind dem Schutz der Erwachsenen empfehlen. Ist es bei allen Sterbenden so? Legen sie alle die gesellschaftlichen Verkleidungen ab, die das Kind noch nicht angelegt hat? Oder ließ die Comtesse am Rande der Ewigkeit von allen menschlichen Gefühlen nur noch die Liebe gelten, und drückte sie wie Chloe deren sanfte Unschuld aus?
    »Wie früher werden Sie mich der Gesundheit zurückgewinnen, Felix, und mein Tal wird mir wohltun. Wie sollte ich das nicht essen, was Sie mir reichen! Sie sind ein so guter Krankenpfleger, und dann sind Sie so strotzend von Kraft und Gesundheit, daß Ihre Lebenswucht ansteckend wirken

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