Die Lilie im Tal (German Edition)
gerührt, als er die Banner des Todes über dem geliebten Wesen wehen sah. Ich nahm auf dem Sofa den Platz ein, wo sie gesessen hatte; dann wechselten wir alle vier Blicke, in denen Bewunderung für diese himmlische Schönheit sich mit Tränen des Schmerzes paarten. Das Licht auf ihrem Antlitz verkündete, daß Gott in einer seiner schönsten Tempel zurückgekehrt sei. Der Abbé de Dominis und ich teilten uns in einer Zeichensprache unsere Gedanken mit. Ja, die Engel hielten Wache bei Henriette; ihre Schwerter leuchteten über dieser edlen Stirn, auf der die hehre Tugend wieder thronte, auf der früher eine geradezu sichtbare Seele lag, mit der die Geister ihrer Sphäre sich unterhielten. Die Linien ihres Antlitzes verklärten sich, alles in ihr wurde größer und majestätischer unter den unsichtbaren Weihrauchbecken der Seraphim, die sie bewachten. Die grünlichen Farbtöne der körperlichen Krankheit waren einem reinen Weiß gewichen, der matten, kalten Blässe des nahenden Todes. Jacques und Madeleine traten ein: uns alle überlief ein Schauer, als Madeleine in einem Anbetungsdrang vor dem Bett niederstürzte, die Hände faltete und die erhabenen Worte rief: »Endlich wieder meine Mutter!«
Jacques lächelte; er war sicher, seiner Mutter dahin zu folgen, wohin sie ging.
»Sie erreicht den sichern Hafen«, sagte der Abbé Birotteau.
Der Abbé de Dominis sah mich an, als wollte er fragen: ›Habe ich nicht gesagt, daß der Stern leuchtend noch einmal aufginge?‹
Madeleines Augen waren auf ihre Mutter geheftet; sie atmete, wenn die Mutter atmete, kaum hörbar, wie sie. Wir lauschten dem Atem der Kranken mit ängstlicher Spannung in der steten Furcht, daß dieser letzte Faden, mit dem sie noch am Leben festhielt, risse. Einem Engel gleich, der an den Pforten des Heiligtums wacht, war das junge Mädchen gespannt und gefaßt, stark und niedergebeugt zugleich. Da begannen im Dorfe die Abendglocken zu läuten. Sanfte Luftwellen trugen die schwebenden Klänge zu uns herüber, die uns verkündeten, daß zu dieser Stunde die ganze Christenheit die Worte wiederhole, mit denen der Engel die Frau begrüßte, die alle Sünden ihres Geschlechts sühnte. An jenem Abend erschien uns das ›Ave Maria‹ als ein Gruß des Himmels. Die Weissagung war so unverkennbar und die Entscheidung so nahe, daß wir in Tränen ausbrachen. Das Säuseln des Abendwindes, das melodische Rascheln des Laubes, das verstummende Zwitschern der Vögel, das Summen der Insekten, die Stimmen des Wassers, der Klageton der Unke: die ganze Natur sagte der schönsten Lilie des Tales, ihrem schlicht ländlichen Dasein ein letztes Lebewohl. Dieses Zusammenklingen überirdischer und natürlicher Lieder bildete eine so ergreifende Abschiedshymne, daß wir von neuem zu schluchzen begannen. Die Tür stand offen, aber wir waren in diesen schrecklichen Anblick so vertieft, als wollten wir jede Einzelheit des Bildes auf ewig unserer Seele einprägen, daß wir nicht bemerkt hatten, wie die Leute im Nebenzimmer niederknieten und leise Gebete murmelten. All diese armen, vertrauenden Menschen hatten noch gehofft, ihre Herrin zu behalten, und die allzu deutliche Todesbotschaft übermannte sie. Auf einen Wink des Abbés Birotteau ging der Vorreiter hinaus, um den Priester von Saché zu holen. Der Arzt stand am Bette, ruhig wie die Wissenschaft selbst, und hielt die schlaffe Hand der Kranken; er machte dem Beichtväter ein Zeichen, um ihm zu bedeuten, daß dieser Schlaf die letzte schmerzlose Stunde sei, die dem heimgerufenen Engel auf Erden bliebe. Der Augenblick war gekommen, ihr die Letzte Ölung zu geben. Um neun Uhr wachte sie sanft auf, sah uns erstaunt, aber mild an, und wir schauten alle unsere Angebetete in der ganzen Schöne ihrer schönsten Tage.
»Mutter, du bist zu schön, um zu sterben!« rief Madeleine, »du wirst leben und gesund sein.« – »Liebes Kind, ich werde leben, aber in dir«, sagte sie lächelnd.
Dann umarmte die Mutter ihre Kinder, die Kinder umschlangen die Mutter: ein herzzerreißender Anblick.
Monsieur de Mortsauf küßte seine Frau andächtig auf die Stirn. Die Comtesse errötete, als sie mich sah.
»Lieber Felix«, sagte sie, »das ist, glaube ich, der erste und einzige Kummer, den ich Ihnen bereite. Aber vergessen Sie, was ich Ärmste in meinem Irresein gesagt haben mag.« Sie reichte mir die Hand, ich führte sie an meine Lippen, da fragte sie mit ihrem anmutigen Tugendlächeln: »Wie früher, Felix?«
Wir verließen alle das Zimmer
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