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Die Lilie im Tal (German Edition)

Die Lilie im Tal (German Edition)

Titel: Die Lilie im Tal (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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wiederfand, so fröhlich herauf gestürmt kam. Wir gingen durch das Tal der Indre bis zum kleinen Friedhof von Saché. Es war ein bescheidener kleiner Dorffriedhof an der Rückseite der Kirche, auf dem Kamm eines Hügels. Dort wollte sie aus christlicher Demut begraben sein, unter einem schlichten schwarzen Holzkreuz, wie eine arme Bauersfrau, hatte sie gesagt. Als ich auf halbem Wege vom Tal aus die Dorfkirche und den Friedhof erblickte, befiel mich ein nervöses Frösteln. Ach, wir haben alle in unserm Leben ein Golgatha, wo wir mit blutendem Herzen die dreiunddreißig ersten Jahre unsers Lebens verlieren. Da fühlen wir auf unserm Haupte den Dornenkranz statt der Rosenkrone. Dieser Hügel sollte für mich der Berg der Sühne sein. Eine gewaltige Volksmenge folgte uns, die zusammengeströmt war, damit die Tote von der Trauer des ganzen Tales begleitet werde, wo sie in aller Stille so viele edle Handlungen vollbracht hatte. Man erfuhr durch Manette, ihre Vertraute, daß sie, um den Armen zu helfen, an ihrer Toilette sparte, wenn ihr Geldvorrat nicht reichte. Bald waren es arme nackte Kinder, die sie bekleidete, sie schickte Kinderwäsche, sie half armen Müttern, kaufte den Müllern im Winter Getreide ab für altersschwache Greise, schenkte einem armen Haushalt eine Kuh und handelte in allem als Christin, Mutter und gütige Herrin. Ein andermal gab sie jungen Leuten, die sich liebten, eine Mitgift oder kaufte einen Rekruten frei, und was die edlen Gaben einer gutherzigen Frau mehr sind, die sich den Wahlspruch gewählt hat: ›Das Glück anderer ist der Trost derer, die selbst nicht mehr glücklich sein können.‹ – Seit drei Tagen wurden diese Dinge am Abend in allen Dörfern herumerzählt, und nun waren die Dankbaren von überall zusammengeströmt. Ich ging mit Jacques und den beiden Abbés hinter dem Sarge her. Nach dem Brauch des Landes waren Madeleine und der Comte zu Hause geblieben. Manette hatte darauf bestanden, sich uns anzuschließen.
    »Arme Madame, arme Madame, jetzt ist sie glücklich!« hörte ich sie mehrmals unter Schluchzen sagen. Als der Leichenzug die Mühlenstraße verließ, hörte man einstimmiges Klagen und Seufzen: es war, als beweinte das Tal seine Seele. Die Kirche war voller Menschen. Nach dem Gottesdienst gingen wir auf den Friedhof, wo sie nahe beim Kreuz begraben werden sollte. Als ich Erde und Steine auf den Sarg rollen hörte, verließ mich die Kraft, ich schwankte und bat die beiden Martineau, mich zu stützen. Sie führten mich halbtot nach dem Schlosse von Saché, dessen Besitzer mir höflich Gastfreundschaft anboten, die ich dankend annahm. Ich muß Ihnen gestehen, ich wollte nicht nach Clochegourde zurückkehren, auch in Frapesle wollte ich nicht sein, weil ich von dort aus Henriettes Schloß sah. Hier war ich nahe bei ihr. Ich blieb mehrere Tage in einem Zimmer, dessen Fenster auf das stille, einsame Tal hinabsahen, von dem ich Ihnen schon erzählt habe. Es ist eine breite Erdfalte, die von zweihundertjährigen Eichen gesäumt ist und durch die bei starkem Regen ein Gießbach fließt. Dies Landschaftsbild entsprach der ernsten und feierlichen Betrachtung, der ich mich hingeben wollte. Während des Tages, welcher der schrecklichen Nacht folgte, hatte ich zur Genüge empfunden, wie lästig meine Gegenwart den Bewohnern Clochegourdes wäre. Der Comte hatte beim Tode Henriettes heftige Erschütterungen erfahren, aber er war auf dies Ereignis gefaßt gewesen, und im Grunde seines Wesens war er gleichgültig. Ich hatte das oft bemerkt; und als die kniende Comtesse mir den Brief überreichte, den ich nicht öffnen durfte, als sie von ihrer Liebe zu mir sprach, hatte mir der mißtrauische Mann nicht den vernichtenden Blick zugeworfen, den ich erwartete. Die Worte Henriettes hatte er dem allzu feinen Zartgefühl ihres Gewissens, dessen Reinheit er kannte, zugeschrieben. Diese egoistische Gleichgültigkeit war natürlich. Die Seelen dieser beiden Wesen hatten sich nicht mehr vermählt als ihre Leiber. Zwischen ihnen hatten nie die innigen Beziehungen bestanden, welche die Gefühle immer neu beleben. Sie hatten nie Leid und Freude miteinander geteilt, die festen Bande, die uns an tausend Stellen verwunden, weil sie mit allen Fasern unsers Wesens verwachsen sind, weil sie zu tief in unsere Herzen eingeschnitten und die Seele berührt haben. Madeleines Feindschaft verschloß mir die Tür von Clochegourde. Dieses harte junge Mädchen war nicht gewillt, am Sarge ihrer Mutter ihren Haß zu

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