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Die Lilie im Tal (German Edition)

Die Lilie im Tal (German Edition)

Titel: Die Lilie im Tal (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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Beruhigen Sie mich! Wenn Sie an die Todespforte gelangen, werden Sie daran denken, daß ich Sie im Weggehen so gesegnet habe. Erlauben Sie, daß ich unserm Freunde hier das Unterpfand eines tiefen Gefühls hinterlasse?« sagte sie und wies auf einen Brief auf dem Kaminsims. »Er ist jetzt mein Adoptivsohn, weiter nichts. Mein Herz, lieber Comte, macht seine Testamente, mein Letzter Wille betraut diesen lieben Felix mit heiligen Pflichten. Ich glaube nicht, ihn überschätzt zu haben; sorgen Sie, daß ich Sie nicht überschätzt habe, als ich auf Ihre Erlaubnis rechnete, ihm einige Gedanken vermachen zu dürfen. Ich bin immer noch ein Weib«, sagte sie und neigte mit sanfter Wehmut ihr Haupt, »und nach der Verzeihung bitte ich Sie gleich um eine Gunst ... Lesen Sie das, aber erst nach meinem Tode!« wandte sie sich zu mir und reichte mir das geheimnisvolle Schreiben.
    Der Comte sah seine Frau erbleichen, er nahm sie in seine Arme und trug sie auf das Bett, wo wir sie alle umringten.
    »Felix«, sagte sie, »ich habe vielleicht unrecht gegen Sie gehandelt. Ich hab£ Ihnen wohl Enttäuschungen bereitet, als ich Sie Freuden erhoffen ließ, vor deren Gewährung ich dann wieder zurückschreckte. Aber danke ich es nicht der Festigkeit der Gattin und der Mutter, daß ich jetzt mit allen versöhnt sterbe? So werden Sie mir auch verzeihen, Sie, der Sie mich so oft beschuldigt haben und dessen Ungerechtigkeit mich erfreute.«
    Der Abbé Birotteau legte seine Finger auf ihre Lippen. Da neigte die Sterbende ihr Haupt, eine Schwäche befiel sie, sie bewegte die Hände, um zu bedeuten, daß die Geistlichen, ihre Kinder und die Dienstboten eintreten sollten. Dann wies sie mit bedeutsamer Geste auf den Comte und auf ihre Kinder, die eben eintraten. Der Anblick dieses Vaters, dessen geheimen Wahnsinn wir allein kannten und der jetzt die Stütze dieser zarten Wesen sein sollte, legte ihr die stumme, flehentliche Bitte nahe, die wie eine heilige Glut auf die Seele fiel. Ehe sie die Letzte Ölung erhielt, bat sie ihre Leute um Verzeihung, wenn sie sie manchmal barsch behandelt hätte; sie forderte sie auf, für sie zu beten, und empfahl jeden einzelnen der Fürsorge des Comte. Sie gestand großherzig, daß sie während der letzten Monate unchristliche Klagen geführt habe, die ihre Leute wohl hätten verletzen können, aber diesen Mangel an Unterwürfigkeit unter Gottes Willen schrieb sie ihren unerträglichen Leiden zu. Schließlich dankte sie dem Abbe Birotteau öffentlich und mit rührender Liebe dafür, daß er ihr die Nichtigkeit aller irdischen Dinge gezeigt habe. Als sie aufgehört hatte zu sprechen, begannen die Gebete. Dann gab ihr der Priester von Sache die heilige Wegzehrung. Wenige Augenblicke später stockte ihr Atem, eine Wolke sank über ihre Augen, die sich gleich wieder öffneten. Sie warf mir einen letzten Blick zu und starb vor aller Augen; vielleicht vernahm sie noch unser aller Schluchzen. Als sie ihren letzten Seufzer aushauchte, das letzte Leiden eines langen Lebens voll Leid, fühlte ich in mir einen Ruck, der mein ganzes Wesen erschütterte. Der Comte und ich blieben während der ganzen Nacht am Totenbette mit den beiden Abbés und dem Priester; beim Schein der Kerzen hielten wir Totenwache. Da lag sie nun friedlich auf ihrem Bette, wo sie so viel Schmerzen erduldet hatte.
    Das war meine erste Berührung mit dem Tode. Während dieser ganzen Nacht wandte ich den Blick nicht von Henriette ab; ich war gebannt von dem geläuterten Ausdruck, den die Ruhe nach allen Stürmen verleiht, von der Blässe des Gesichts, zu dem ich noch mit allen meinen zärtlichen Gefühlen sprach, das aber auf meine Liebe keine Antwort mehr gab. Wie hoheitsvoll diese kalte Ruhe war, wie gedankenschwer! Welche Schönheit in dieser unbedingten Ruhe, welche Gewalt in dieser Unbeweglichkeit! Die ganze Vergangenheit liegt noch hier, wo schon die Zukunft beginnt. Ach, ich liebte sie im Tode ebenso, wie ich sie lebend geliebt hatte! Gegen Morgen begab sich der Comte zur Ruhe; die drei Geistlichen schliefen ermüdet ein in dieser Stunde, die sich so schwer auf Wachende herabsenkt. Da konnte ich denn ohne Zeugen ihre Stirn küssen mit der ganzen Liebesglut, wie ich sie nie hatte berühren dürfen.
    Tags darauf, an einem kühlen Herbstmorgen, begleiteten wir die Comtesse zu ihrer letzten Ruhestätte. Der alte Vorreiter, die beiden Martineaus und Manettes Mann trugen den Sarg. Wir gingen langsam den Weg hinunter, den ich an dem Tage, als ich sie

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