Die Lilie im Tal (German Edition)
wäre doch ein Verbrechen! ... Fliehen? ... Um meine Kinder? Mich scheiden lassen? ... Aber wie soll ich nach fünfzehnjähriger Ehe meinem Vater sagen, daß ich es bei Monsieur de Mortsauf nicht aushalten kann, wo er doch in Gegenwart meiner Eltern immer gesetzt, vernünftig, höflich und geistreich sein wird? Haben übrigens verheiratete Frauen noch Vater oder Mutter? Sie gehören mit Leib, und Eigentum ihrem Manne. Ich lebte friedlich, wo nicht glücklich, ich schöpfte einige Kraft aus meiner Einsamkeit – das muß ich gestehen –, aber wenn ich dieses negativen Glückes beraubt bin, werde ich sicher noch wahnsinnig! Mein Widerstand stützt sich auf wichtige Gründe, die außerhalb meiner Person liegen. Ist es nicht ein Verbrechen, armen Geschöpfchen das Leben zu geben, die von vornherein zu dauerndem Leiden verdammt sind? Und doch wirft mein Verhalten so schwerwiegende Fragen auf, daß ich sie nicht allein entscheiden kann; ich bin gleichzeitig Richter und Partei. Morgen werde ich nach Tours gehen und dem Abbé Birotteau, meinem jetzigen Beichtvater, meine Zweifel vorlegen. Denn mein lieber, tugendreicher Abbé de la Berge ist gestorben. Obwohl er streng war, wird mir seine apostolische Glaubenskraft immer fehlen. Sein Nachfolger ist ein Engel an Milde, er läßt sich von Rührung übermannen, statt zu tadeln, und doch: welcher geschwächte Mut fände nicht im Glauben Stärkung? welche Vernunft würde nicht durch die Stimme des Heiligen Geistes aufgerichtet? – Mein Gott«, fuhr sie fort, ihre Tränen trocknend, den Blick gen Himmel gerichtet, »wofür strafst du mich? Aber wir müssen es glauben«, sagte sie und legte ihre Hand auf meinen Arm, »ja wollen es glauben: wir müssen durch den glühenden Schmelztiegel, um vollkommen und heilig in die höheren Sphären vorzudringen. Muß ich schweigen? Verbietest du mir, mein Gott, zu einem Freundesherzen zu schreien? Liebe ich ihn zu sehr?«
Sie drückte mich an ihr Herz, als fürchte sie, mich zu verlieren.
»Wer wird mich von diesen Zweifeln befreien? Mein Gewissen wirft mir nichts vor. Die Sterne leuchten vom Himmel hernieder auf die Menschen; warum sollte die Seele, der Stern in des Menschen Brust, nicht einen Freund in seinen Strahlenkreis hüllen, wenn man ihm nur reine Gedanken weiht?«
Ich hörte diese schreckliche Klage schweigend an und hielt die schlaffe Hand der Frau in meiner noch schlafferen Hand. Ich drückte sie mit einer Kraft, der Henriette mit gleicher Kraft antwortete.
»Aha – hier stecken Sie!« rief der Comte, der uns barhäuptig entgegenkam.
Seit meiner Rückkehr bestand er darauf, sich in unsere Unterhaltung zu mischen, vielleicht weil er eine Zerstreuung davon erhoffte, vielleicht weil er fürchtete, daß mir die Comtesse ihre Leiden anvertraue, vielleicht aber auch, weil er eifersüchtig war um einer Freude willen, die er nicht teilte.
»Wie er hinter mir her ist!« sagte sie im Ton der Verzweiflung. »Wir wollen in unsern Weinberg gehen und ihm so entfliehen. Bücken Sie sich, solange wir an der Hecke entlanggehen, damit er uns nicht sieht!«
Eine dicke Hecke diente uns als Schutzwall, laufend erreichten wir den Weinberg und waren bald weit vom Comte in einer Allee von Mandelbäumen.
»Liebe Henriette«, sagte ich dann, drückte ihren Arm an mein Herz und stand still, um sie in ihrer Qual zu betrachten, »Sie haben mich früher auf den gefährlichen Pfaden der großen Welt mit Weisheit geleitet. Erlauben Sie mir nun, Ihnen einige gute Ratschläge zu geben, die Ihnen helfen sollen, den Zweikampf, worin Sie unfehlbar erliegen müßten, ohne Sekundanten zu beenden. Sie kämpfen nicht mit gleichen Waffen. Messen Sie sich nicht länger mit einem Wahnsinnigen ...«– »Still!« sagte sie und hielt die Tränen zurück, die aus ihren Augen stürzten. – »Hören Sie mich, Liebe! Nach einer einstündigen Unterhaltung, wie ich sie aus Liebe zu Ihnen ertragen muß, sind meine Gedanken oft verwirrt, mein Kopf ist schwer. Der Comte macht mich irre an meinem Verstand. Dieselben immer wiederholten Ideen graben sich gegen meinen Willen in mein Gehirn. Unzweideutige Monomanien sind nicht ansteckend, aber wenn der Irrsinn sich in der ganzen Art äußert, wie er die Dinge ansieht, wenn er sich hinter beständigen Diskussionen versteckt, kann er schlimme Verheerungen in seiner Umgebung anrichten. Ihre Geduld ist überirdisch. Aber sind Sie nicht ganz erschöpft, fast vernichtet? Um Ihretwillen, um der Kinder willen: ändern Sie Ihr Benehmen
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