Die Lilie im Tal (German Edition)
Gespräch mit mir hatte er besonders darüber geklagt, daß er sich zuviel um die Seinen sorge. Dabei schwang er die Geißel, zerbrach und warf alles nieder, wie es ein Affe getan hätte. Und wenn er sein Opfer verletzt hatte, leugnete er, es je berührt zu haben. Da verstand ich, was auf die Stirn der Comtesse die haarscharfen Linien eingegraben hatte, die mir beim Wiedersehen aufgefallen waren. Edle Seelen besitzen ein Schamgefühl, das sie verhindert, ihre Schmerzen auszusprechen. Stolz verbergen sie deren Größe allen, die sie lieben; sie gehorchen einem Gefühl wollüstigen Mitleids für den Henker. Auch vermochte ich Henriette trotz meines Drängens dies Geständnis nicht mit einem Male zu entreißen; sie fürchtete, mich zu betrüben. Ihre Bekenntnisse waren von plötzlichem Erröten unterbrochen; aber ich erriet bald, wie sehr sich durch die Untätigkeit des Comte die häusliche Lage in Clochegourde verschlimmert hatte.
»Henriette«, sagte ich ihr nach einigen Tagen, um ihr zu zeigen, daß ich die Tiefe ihres neuen Elends ermessen hatte, »haben Sie nicht unrecht daran getan, Ihren ganzen Grundbesitz so vortrefflich einzurichten, daß der Comte keine Beschäftigung mehr darin findet?« – »Lieber!« sagte sie lächelnd, »meine Lage ist kritisch genug, meine ganze Aufmerksamkeit zu erfordern. Glauben Sie, daß ich alle Möglichkeiten wohl ins Auge gefaßt habe, sie sind alle erschöpft! In der Tat sind die Zänkereien mit jedem Tage schlimmer geworden. Da Monsieur de Mortsauf immer in meiner Nähe ist, kann ich ihre Wirkung nicht abschwächen, indem ich sie auf verschiedene Punkte verteile. Alles wäre gleich schmerzhaft für mich. Ich habe daran gedacht, Monsieur de Mortsauf zu zerstreuen. Ich riet ihm, eine Seidenraupenzucht in Clochegourde einzurichten, wo schon einige Maulbeerbäume stehen, Überreste der alten Seidenindustrie, die einst in der Touraine blühte. Aber ich habe eingesehen, daß er dann ebenso despotisch im Hause wäre und daß ich außerdem alle Lasten dieses Unternehmens allein zu tragen hätte. Verstehen Sie wohl, Herr Beobachter: in der Jugend werden die schlechten Eigenschaften des Menschen von der Gesellschaft niedergehalten, vom Spiel der Leidenschaft in ihrer Entfaltung gehemmt, von der Rücksicht auf Menschen eingedämmt; später, beim alternden Manne und in der Einsamkeit, brechen diese kleinen Fehler desto unbarmherziger hervor, je länger sie unterdrückt worden sind. Alle menschlichen Schwächen sind in ihrem innersten Wesen Feigheit. Sie geben weder Ruhe noch Frieden. Was man ihnen gestern bewilligt hat, verlangen sie heute, morgen und immer: sie setzen sich in Zugeständnissen fest und erweitern sie. Jede Macht ist gütig, sie fügt sich der bessern Einsicht, ist gerecht und friedlich, während die Leidenschaften, die der Schwäche entspringen, unbarmherzig sind; sie handeln am liebsten wie die Kinder, die Früchte, im geheimen gestohlen, den bei Tisch gebotenen vorziehen. So macht es Monsieur de Mortsauf das größte Vergnügen, mich zu überlisten; er, der niemanden hinterginge, betrügt mich mit wahrer Wonne, wenn nur seine List verborgen bleibt.«
Etwa einen Monat nach meiner Ankunft, eines Morgens nach dem Frühstück, nahm die Comtesse meinen Arm, schlüpfte durch ein Gittertor, das in den Obstgarten führte, und zog mich hinter sich her in die Reben.
»Ach, er wird mich noch umbringen!« sagte sie. »Und doch will ich leben, sei es auch nur für meine Kinder! Wie ist es nur möglich! Keinen Tag Rast, immer durch Dornen gehen müssen, bei jedem Schritte straucheln und jeden Augenblick seine Kräfte sammeln, um das Gleichgewicht zu behalten! Niemand kann solchen Aufwand an Energie aufbringen. Wenn ich nur wüßte, nach welcher Richtung ich meine Bemühungen wenden sollte! Wenn ich genau wüßte, wie ich mich schützen soll! Ich könnte mich damit abfinden. Aber nein, jeden Tag ist der Angriff ein anderer und überrascht mich immer in wehrlosem Zustand. Mein Leiden ist nicht ein einzelnes, es ist vielfältig! Felix! Felix! Sie ahnen nicht, welche schreckliche Form seine Tyrannei angenommen hat und welch grausame Ansprüche ihm seine Medizinbücher eingeben. Ach, lieber Freund!« brach sie ihr Geständnis ab und lehnte ihr Haupt an meine Schulter – »Was woll das werden? Was soll ich tun?« fuhr sie fort, sich ihrer unausgesprochenen Gedanken erwehrend; »Wie soll ich Widerstand leisten? Er wird mich umbringen! Nein, ich will mir selbst das Leben nehmen, und das
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