Die Lilie im Tal (German Edition)
zum Comte! Ihre göttliche Nachgiebigkeit hat seinen Eigensinn gefördert. Sie haben ihn behandelt, wie eine Mutter ihr verwöhntes Kind behandelt. Aber jetzt, wenn Sie leben wollen – und Sie wollen es!–, jetzt entfalten Sie die Macht, die Sie über ihn haben! Sie wissen, er liebt und fürchtet Sie. Flößen Sie ihm noch mehr Furcht ein! Setzen Sie seinem schwanken Willen einen geradlinigen entgegen! Dehnen Sie Ihre Macht aus, wie er die Zugeständnisse, die Sie ihm machten, zu erweitern verstand! Schließen Sie seine Krankheit in eine geistige Sphäre ein, wie man Irrsinnige in eine Zelle schließt!« – »Liebes Kind«, sagte sie mit bitterem Lächeln, »nur eine herzlose Frau kann diese Rolle spielen. Ich bin Mutter, ich wäre ein schlechter Henker. Ja, ich weiß zu leiden, aber andere leiden machen? Niemals! Nicht einmal, um edle oder große Zwecke zu erreichen! Und dann: müßte ich mich nicht zum Lügen zwingen, meine Stimme verstellen, meine Stirn wappnen, meine Bewegungen fälschen? ... Ich kann mich wohl zwischen Monsieur de Mortsauf und seine Kinder stellen, ich werde seine Schläge auffangen, damit sie keinen andern treffen, aber mehr vermag ich nicht, um so viel widerstreitende Interessen zu vereinigen.« – »Laß dich anbeten, Heilige, Dreifachheilige!« sagte ich, vor ihr hinkniend, küßte den Saum ihres Gewandes und trocknete meine Tränen daran. – »Wie aber – wenn er Sie tötet?«
Sie erblaßte und antwortete, den Blick gen Himmel gerichtet: »Gottes Wille geschehe!« – »Wissen Sie, was der König neulich Ihren Vater gefragt hat? ›Lebt denn dieser verteufelte Mortsauf noch immer?‹« – »Was ein Scherz im Munde des Königs ist«, antwortete sie, »ist hier ein Verbrechen.«
Trotz unserer Vorsichtsmaßregeln war der Comte unserer Spur gefolgt, er holte uns schweißgebadet unter einem Nußbaum ein, wo die Comtesse stehengeblieben war, um dies ernste Wort zu sprechen. Schöpfte er ungerechten Verdacht? Ich weiß es nicht. Jedenfalls beobachtete er uns wortlos, ohne auf die Kühle zu achten, welche die Nußbäume verbreiteten. Nach wenigen inhaltlosen Worten, die von inhaltsschweren Pausen unterbrochen waren, klagte der Comte über Übelkeit und Kopfschmerzen. Er jammerte leise, ohne unser Mitleid herauszufordern, ohne uns seine Leiden in übertriebenen Farben zu malen. Wir beachteten das nicht im geringsten. Auf dem Heimweg fühlte er sich noch weniger wohl, sprach davon, sich ins Bett zu legen, und zog sich ohne viel Umstände zurück, mit einer Natürlichkeit, die ihm sonst nicht eigen war. Wir benutzten den Waffenstillstand, den uns seine Hypochonderlaune gewährte, und gingen, von Madeleine begleitet, auf unsere liebe Terrasse hinunter.
»Wir wollen eine Bootsfahrt machen«, sagte die Comtesse, nach kurzem Aufundabgehen. »Wir wollen zusehen, während der Verwalter Fische für uns fängt.«
Wir gingen durch die kleine Tür, gelangten ans Boot, sprangen hinein und ruderten langsam flußaufwärts. Wie drei Kinder, die sich über jede Kleinigkeit freuen, betrachteten wir die Gräser am Flußrand, die blauen und grünen Libellen; und die Comtesse wunderte sich, mitten in ihren zähen Kümmernissen so friedliche Freuden kosten zu können. Und doch: übt nicht die Stille der Natur, die unbekümmert um unsere Kämpfe ewig dieselbe bleibt, einen tröstlichen Liebreiz auf uns aus? Die Erregung einer zurückgedrängten Liebesbegierde ist wie die Bewegung des Wassers; die Blumen, die Menschenhand noch nicht verunziert hat, geben unsere geheimsten Träume wieder; das wollüstige Wiegen des Kahnes erinnert leise an die Gedanken, die in der Seele auf und nieder wogen. Diese doppelte Poesie lullte uns sanft ein. Die Worte, die mit der Natur auf den gleichen Ton gestimmt waren, hatten einen geheimnisvollen Zauber, und die Blicke strahlten heller in dem Licht, das die Sonne in breiten Fluten über die flammende Wiese goß. Der Fluß glich einem Pfade, auf dem wir hinflogen. Und da uns die gleichmäßige Marschbewegung nicht ablenkte, konnten unsere Gedanken die ganze Schöpfung umfassen: War nicht die stürmische Freude eines ausgelassenen kleinen Mädchens, dessen Bewegungen so anmutig, dessen Äußerungen so störend sind – war die nicht auch der lebendige Ausdruck zweier freier Seelen, die freudig jenes wunderbare, von Plato erträumte Idealgeschöpf bildeten, das allen bekannt ist, deren Jugend eine glückliche Liebe ausfüllte? Um Ihnen diese Stunde zu malen, nicht in ihren
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