Die Lilith Verheißung: Thriller (German Edition)
weiter sie in die Halle schritten. Es schien der Versammlungsraum der Sekte zu sein. Wieder erklangen Kantaten Bachs. Diesmal aber kam die Musik nicht vom Band. Ein Kinderchor auf einer den Raum umlaufenden Brüstung sang mehrstimmig in hohen Tönen die Kantaten. Immer unwirklicher wurde die Situation. In einem scheinbar nicht enden wollenden Strom schleppten sich die Kranken mit letzter Kraft, zum Teil gestützt, zum Teil allein, hinein. Andere Kranke wurden von Helfern hereingetragen und vorsichtig auf Gummimatratzen, die auf den kalten Betonplatten des Bodens lagen, gelegt. Schon bald stank es in dem warmen Raum nach den Wundflüssigkeiten der Pockenkranken. Frauen in weißen, körperbetonten Gewändern, mit streng zurückgekämmten Haaren und fast entrückt aussehenenden Gesichtern versorgten die schwersten Fälle, schlossen Kanülen an und wechselten die Verbände an den eiternden Wunden.
An allen Seiten des Raumes hingen lange Stoffbahnen aus Leinen mit Motiven aus den Werken Hieronymus Boschs von der Decke herab. Sie wurden mit geschickt postierten Scheinwerfernangestrahlt, so dass einzelne Szenen besonders plastisch, fast dreidimensional wirkten. Vorsichtig schritten Jan und Elijah hinter einem Platzanweiser her. Ihnen wurden sehr weit vorn Plätze auf Bierbänken zugewiesen. Neben ihnen lagen wimmernde und übelriechende Menschen, einige wälzten sich vor Schmerzen, andere starrten apathisch an die Wände. Jan folgte ihren Blicken. An der linken Seite erkannte er Szenen aus einem Gemälde mit dem Namen »Der Garten der Lüste«. Nackte Menschen aller Altersgruppen schienen orgiastisch in einer Traumwelt frivolen und wollüstigen Taten nachzugehen. Andrea hatte es ihm einst erklärt. Mit großer Leidenschaft verwahrte sie sich gegen eine These, die lange in der Kunstwelt vorherrschte. Es sei kein Hinweis, dass der Künstler ein Häretiker, ein Anhänger einer mittelalterlichen Sekte, gewesen sei. Vielmehr zeige das Bild jene alttestamentarische Zeit vor Noah. Also bevor die große Sintflut, wie in der Genesis beschrieben, die sündige Menschheit bis auf wenige hinwegspülte. Das Original hing im Prado in Spanien, daran erinnerte Jan sich. Andrea war hochschwanger mit ihrem ersten und einzigen Sohn, als sie damals trotz seines Widerstandes nach Madrid gefahren waren.
Auf der rechten Seite des Saales waren hingegen die berühmten Dämonenszenen mit dem Sturz der Verdammten in die Hölle zu sehen. Doch am Kopfende der Halle hing das berühmteste Bild des Malers. Jan zeigte Elijah das Bild und erklärte es leise.
»Eine von Engeln, wie die, die wir eben am Eingang gesehen haben, begleitete Gruppe strebt in einem Tunnel einem strahlenden Licht entgegen. Sie schweben durch die sieben konzentrischen Kreise, die heller werden, je weiter sie sich einem Höhepunkt aus purem Licht im Zentrum nähern.«
Elijah nickte gebannt. »Das ist sehr schön.«
»Aber das ist nicht alles. Und du weißt das, Jan Kistermann.«
Sie zuckten zusammen. Hinter ihnen saß Jans Exfrau, auch sie in einem weißen, engen Leinengewand, und sah die beiden milde lächelnd an.
»Magst du mir verraten, wen du zu uns mitgebracht hast?«
Jan stellte die beiden einander vor. Diese förmliche Gestewirkte so absurd, dass Jan unpassenderweise lachen musste. Sofort entschuldigte er sich.
Doch seine Exfrau lächelte weiter unbewegt. »Es ist schön, dass du da bist. Sie wird dir sicherlich helfen.«
Er versuchte, in ihren Augen eine Spur von Ironie oder Spott zu entdecken, aber da war nur ein Leuchten. Ein Leuchten, das er als Arzt nur von Schwangeren oder Wahnsinnigen kannte.
»Siehst du das Bild aus dem ›Garten der Lüste‹? Erinnert dich das an etwas?«
Jan nickte. »Unsere Reise nach Madrid. Ja, ich erinnere mich. Es ist Boschs Vorstellung von der Zeit vor Noahs Bau der Arche, richtig?«
Sie nickte und rezitierte mit geschlossenen Augen: »Der Herr sah, dass die Menschen auf der Erde völlig verdorben waren. Alles, was aus ihrem Herzen kam, ihr ganzes Denken und Planen, war durch und durch böse. Das tat ihm weh, und er bereute, dass er sie erschaffen hatte. Er sagte: ›Ich will die Menschen wieder von der Erde ausrotten – und nicht nur die Menschen, sondern auch die Tiere auf der Erde, von den größten bis zu den kleinsten, und auch die Vögel in der Luft. Es wäre besser gewesen, wenn ich sie gar nicht erst erschaffen hätte.‹«
Sie machte eine Pause. Dann beugte sie sich noch weiter nach vorn, legte ihre Hände auf Jans und
Weitere Kostenlose Bücher