Die Lilith Verheißung: Thriller (German Edition)
dann fiel es ihm auf. Auf mindestens jedem zweiten Grab waren Kinder vermerkt. Er stoppte, drehte sich um und las. Wieder. »Johanna Weißgerber, 02. 10. 1967– 03. 07. 1969«. Er stapfte durch den Schnee, vorbei an den Steinen, las und zählte. Als er die letzte Reihe durchmessen hatte, schloss er die Augen und zählte. 88 Gräber, und tatsächlich die Hälfte verzeichnete tote Kinder, die nicht älter als drei Jahre alt geworden waren. Aber alle waren innerhalb der letzten 60 Jahre gestorben.
Etwas knirschte hinter ihm. Faruk öffnete die Augen und sah den Mann, der in der Kirche gesessen hatte, aus dem Friedhof treten. Er hatte ihn schon einmal gesehen. Faruk besaß ein gutes Gedächtnis für Gesichter. Und den kannte er. Da war er sich sicher. Er zog sein Handy heraus und schoss rasch ein Foto von ihm, aber er konnte ihn nur noch von hinten fotografieren. Enttäuscht wandte er sich um und knipste Bilder von den Gräbern. Was war hier los?
»Sie sind zu lange bei den Toten. Suchen Sie das Leben. Hier sterben nur alle.«
Wieder war die Alte hinter ihm aufgetaucht. Faruk nickte stumm. Schnee fiel aus den grauen Nebelschwaden, und er sah nach oben, bis ihm eine Schneeflocke direkt ins Auge fiel.
Sie hatten wild aufeinander einredend zusammengesessen und selbst den Wirt mit diesem Verhalten eingeschüchtert. Als Faruk, den Schnee von seinem Mantel klopfend, das Wirtshausbetrat, sah ihn der Mann dankbar an. Faruk blickte zu den Damen und verstand.
»… Aber Sie hören mir ja gar nicht zu, Sie könnten etwas lernen …«
Faruk trat an den Tisch heran. »Guten Morgen, haben die Damen gut geschlafen?«
Regina und Dr. Setner sahen nur kurz auf, nickten und stritten dann weiter.
»Mystik ist kein Esoterikgefasel. Mystik ist eine tragende Säule unserer Kultur. Seit Jahrhunderten sind es immer dieselben Fragen, die die Menschheit beschäftigen. Was kommt danach? Das fragen Sie sich doch auch.«
Regina schnaufte verächtlich. »Danach kommt nichts. Man lebt, man stirbt. Nur Einfältige glauben an mehr.«
Setner war ob dieser, wie sie fand, ignoranten Haltung, die typisch für eine ganze Generation war, entsetzt. »Aber was wäre, wenn Sie es wüssten? Wenn Sie hinter den Vorhang schauen könnten? Und Ihr Leben ändern müssten? Oder es eben nicht täten und dafür ewige Schmerzen und Leid auf sich nehmen müssten. Ihr Schicksal würde nur von Ihrer Trägheit oder Ihrer Hartnäckigkeit abhängen.«
Für einen kurzen Moment ließ Regina zu, dass Zweifel über ihre Haltung die Oberhand gewannen. Dann fand sie zurück zu ihrer Überzeugung. »Für mich ist es irrelevant, aber ich kann mir vorstellen, was Menschen alles dafür tun würden.«
Faruk setzte sich, goss sich Kaffee aus einer Kanne ein und genoss, wie die Wärme langsam in seinen Körper zurückkehrte. Er hörte den Frauen, die immer noch in ihren Streit versunken waren, still zu. Der Glaube an ein ewiges Leben hatte ihn nie berührt. Je älter er wurde, desto mehr Fragen als Antworten hatte er. Und so schwieg er lieber, als Theorien und Vermutungen aufzustellen. Er hörte, wie Setner sagte, dass »auch die Nazis ein großes Interesse an diesem Werk hatten, wie überhaupt an allem, was ihnen übersinnlich erschien«.
Regina schnaubte. »Sie haben einen Nazikomplex, Sie sehen überall Hakenkreuze.«
Setner lehnte an der Wand, den rechten Arm hatte sie ausgestreckt und rührte in ihrem Tee. »Junge Frau, ich …«
Faruk unterbrach sie mit Blick auf den unbeteiligt tuenden Wirt. »Ist es Ihnen möglich, die Konversation leiser oder an einem anderen Ort weiterzuführen? Es sei denn, Sie sind an einem regen Austausch mit der Dorfbevölkerung interessiert.«
Missmutig sahen ihn beide Frauen an, erhoben sich aber, und kurze Zeit später standen sie am Ufer der zugefrorenen Donau. Erst sahen sie den spielenden Kindern zu, dann betrat Regina das Eis und Faruk folgte widerwillig. Er reichte Dr. Setner die Hand, und beide rutschten zu Regina, die am Rand der wieder zugefrorenen Fahrrinne stand und rauchte. Faruk berichtete von seinem morgendlichen Spaziergang über den Friedhof.
»Ich kann nicht sagen, warum. Aber irgendetwas stimmt hier nicht. Der Mann in der Kirche war komisch. Er schien mich zu verfolgen.«
Regina sah ihn zweifelnd an.
Setner hatte still zugehört, ehe sie leise sagte: »Wir sollten mit Ezechiels Lehrerin sprechen.«
Ein Mädchen kam mit hohem Tempo auf Schlittschuhen auf die drei zu, bremste gekonnt und fragte Regina freundlich nach einer
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