Die Lilith Verheißung: Thriller (German Edition)
der Nacht in den Hals geschossen. Und er selbst würde den heutigen Tag nicht überleben. Er hatte diese Vorahnung.Es war wie bei dem Zehn-kleine-Negerlein-Spiel. Und nun war er der Letzte. Er nahm seinen Karabiner in die linke Hand und marschierte mit seinem Zug westlich auf der einstmals schönen Hauptstraße Péronnes zur ersten Hauptkampflinie. Sie überquerten in gebückter Haltung ein völlig von Granaten durchwühltes Feld, immer die Deckung von Baumstümpfen, zerstörten Pferdefuhrwerken oder Ruinen der Bauernhäuser nehmend. Erschöpft erreichten sie die Pontonbrücke, die erst kürzlich von Pionieren hastig über den Canal du Nord errichtet worden war, um den Vorstoß nicht erlahmen zu lassen. Aber im vierten Kriegsjahr gab es keinen Elan, keinen Siegeswillen mehr. Nur noch nacktes Überleben oder schlimmstenfalls dumpfes Vegetieren waberte den Giftgasschwaden ähnelnd auf beiden Seiten der Front. Dann sah er ihn.
Er war großgewachsen, seine Offiziersmütze trug er leicht schräg. Er wanderte wie ein Sommerfrischler aus der Stadt auf der anderen Seite des Kanals über die Felder des Mordens, hielt kurz inne, stocherte mit einem langen Stock in der Erde herum und rauchte derweil. All das hatte man Fischer in der ersten Woche an der Front verboten, so man nicht sofort von den Tommys gegenüber ins Jenseits geschafft werden wollte. Dieser Offizier da, der in den Nebelschwaden des Morgens wandelte, schien entweder völlig verrückt oder gänzlich naiv zu sein. Er befahl seinem Zug, zwischen einem zerfetzten Pferdeleib und einem zerborstenen Heuwagen in Deckung zu gehen. Dann hastete Fischer über die Brücke, als er schon das erste Pfeifen hörte. Die Engländer schossen sich ein. Fischer warf sich auf der anderen Seite des Kanals in den Schlamm des Ufers, drückte seinen Stahlhelm nach unten, öffnete den Mund, um den Druck der Einschläge auszuhalten, und zählte. Der Boden dröhnte, bebte. Hochgesprengte Erde prasselte wie Dauerregen vom Himmel. Es zischte, knallte und ratterte um ihn herum. Die Luft roch nach Karbid und Schwefel. Doch die meisten Granaten zogen über den Kanal hinweg und schlugen in den Ruinen der Stadt ein. Langsam nahm er wahr, wie das Trommelfeuer eingestellt wurde.
»Der Schlamm macht uns alle mürbe. Ist es nicht so, junger Freund?«
Fischer hob den Kopf und blickte in das freundlich lächelndeGesicht des Offiziers. Der reichte ihm den Stock und bedeutete ihm, sich daran hochzuziehen. Fischer sah, dass er einem Hauptmann gegenüberstand, er grüßte etwas linkisch und wollte sich erklären.
»Herr Hauptmann, ich muss Sie warnen, Sie gehen hier vorn ein großes Risiko ein.«
»Mit wem habe ich es denn zu tun?« Der Hauptmann lächelte immer noch.
Fischer stellte sich vor. »Leutnant Fischer, mit dem zweiten Aufklärungszug auf dem Weg zum ersten Frontabschnitt.«
»Mein Name ist Oskar von Niedermayer. Man hat mich in diese, nun ja, in diese Schlammwüste geschickt, aber das hatte ja auch was Gutes …«
An der Front sind die Sinne viel stärker geschärft, jedes Geräusch, jeder neue Duft wird von den Soldaten aufgenommen und auf Gefahr hin analysiert. Und dieses Geräusch, das jetzt über die Nebelschwaden zog, war alles andere als harmlos. Es zischte. Und dann erfolgte ein Pfiff. Das war das unverkennbare Signal. Fischer sah, dass der Hauptmann keine Gasmaske am Gürtel trug. Lediglich einen Brotbeutel, einen Feldstecher und eine Pistole schien er bei seiner seltsamen Exkursion dabeizuhaben. Der sah ihn verdutzt an.
Fischer schrie: »Buntschießen, die Tommys werfen Gas.« Er zog den ranghöheren Offizier zu sich hinunter, und beide fielen in das brackige Wasser des Kanals. Fischer schnappte nach Luft. »Was machen Sie denn? Sind Sie toll?«
Jetzt war das Lächeln aus dem Gesicht des Hauptmanns verschwunden.
»Das ist Buntschießen, wissen Sie denn nicht, was das ist?«
Niedermayer schüttelte den Kopf. Fischer konnte es nicht glauben, jeder hier an der Westfront kannte diese teuflische Kombination. Erst wird Gelbkreuz verschossen, auch als Senfgas bekannt. Es dringt durch Leder und Kleidung, lässt die Haut brennen, jucken. Es zwingt den Soldaten förmlich, die Gasmaske abzureißen. Dann verschießen sie kurz danach Grünkreuz. Diese sogenannten »Maskenbrecher« ätzen sich in die Atemwege, sofortige Erstickungsanfälle sind die Folge. Der Tod tritt bei nahezu vollem Bewusstsein ein.Meidet man sonst Granattrichter, weil sich dort das Gas sammelt, ist es bei diesem
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