Die Lilith Verheißung: Thriller (German Edition)
Gasangriff das Beste, bis zum Hals im Wasser zu stehen. Denn da dringt das erste Gas nicht durch.
Fischer sah nach oben, gelbmilchig waberten Giftschwaden über den Kanal, einzelne Fetzen segelten langsam die Böschung hinab. Der junge Offizier zog Niedermayer unter die Brücke und setzte ihm seine Maske auf. Es war seine Pflicht, er war sein Vorgesetzter. Niedermayer wehrte ab. Das Gelb kam näher, hatte jetzt die Wasserlinie erreicht. In wenigen Sekunden wäre es bei ihnen.
»Sie atmen ruhig, ich tauche, solange ich kann.« Er atmete tief ein und drückte sich unter das Wasser. Er sah nichts, aber er griff nach einem Holzpfeiler. Er schloss die Augen und zählte. So wie einst am Strandbad auf dem Darß an der Ostsee. Vor dem Krieg, als er ein Kind war und kreischend und lachend ins Wasser gesprungen war und nicht geflohen vor dem Gas. Er versuchte, die Bilder in seinem Kopf zu behalten, und das Verlangen, Luft zu holen, zu verdrängen. Aber mit jeder Sekunde brannten die Lungen stärker, war der Wunsch, aufzutauchen, größer. Es war illusorisch, oben wartete das Senfgas. Kleine Sterne funkelten vor seinen geschlossenen Augen. Dann war das jetzt eben sein Tod. Er hatte keine Kraft mehr. Das kalte Wasser nahm ihm den letzten Überlebenswillen.
Eine Hand griff nach ihm, zog ihn hoch. Er öffnete die Augen, Niedermayer sah ihn an, er hatte die Gasmaske abgenommen und legte einen Finger auf seinen Mund. Über ihm rumpelten Wagen und Menschen über die Brücke. Das Gas hatte sich schon verzogen, direkt dahinter schienen englische Truppen überraschend vorzustoßen. Nach der Offensive war die Hauptkampflinie noch nicht endgültig ausgebaut worden, Lücken waren entstanden. In eine solche wollten die Tommys jetzt stoßen. Und die beiden Deutschen drohten gerade hinter die feindlichen Linien zu geraten. Es wäre für Fischer nicht das erste Mal. In den vergangenen Monaten waren sie bei Sturmangriffen des Gegners immer wieder überrannt worden, ganze Grabenbesatzungen waren entweder so in Gefangenschaft geraten oder hatten den Feind so lange in den Rücken attackiert, bis nachrückende Soldaten sie ausgelöscht hatten. Aber sie hatten keine Waffen, der Karabiner lag weit vor ihm im Wasser, seine Stielgranatenam Koppel waren bestimmt durchnässt. Einzig seinen Kurzspaten hätte er einsetzen können. Sie hörten das Knirschen der Holzräder auf der Bohlenbrücke, Schlammbrocken fielen durch die Ritzen zu ihnen hinunter. Es war noch nicht hell genug, als dass die Soldaten über ihnen sie hätten erkennen können. Die Kälte des Wassers war kaum mehr auszuhalten. Sie klammerten sich beide an die Planken, die die Brücke notdürftig stützten. Fischer spürte seine Hände nicht mehr.
Sie hatten eine Stunde ausgeharrt, als endlich die deutsche Artillerie auf der anderen Seite erwachte. Dröhnend dumpf schien sie sich auf das Ziel einzuschießen. Wie ein großes böses Tier streckte es seine tödliche Zunge aus Granaten und Bomben näher an sie heran, um dann Sekunden später 200 Meter entfernt einzuschlagen. Der Zug über ihnen geriet ins Stocken, so schnell wie möglich waren die Männer in Deckung gesprungen, ein junger Engländer robbte gerade die Böschung kopfüber unter die Brücke, als Fischer mit einem Satz nach vorn seinen Spaten aus dem Wasser zog. Der Junge schaute die beiden Deutschen entsetzt an, seine Brille war verrutscht, ebenso sein brauner Helm, der einer Suppenschüssel glich. Fischer holte aus, hieb den Spaten quer gegen den Hals des Jungen und zog sofort wieder zurück. Mit der rechten Hand fasste der Engländer an seinen Hals, aus dem das Blut herausschoss. Gestern Morgen noch hatte Fischer das Blatt an einem Schleifstein im Keller eines Hauses in Péronne geschärft. Der Junge blutete schneller aus, als er sich wehren konnte. Dennoch zog Fischer ihn zu sich und drückte seinen Kopf unter Wasser.
Das Trommelfeuer seines Zuges wurde jetzt heftiger, sie wurden von hinteren Frontabschnitten unterstützt. Tatsächlich hasteten in irrsinnigem Galopp dieselben Pferdegespanne mit ihren Lafetten über die Brücke, die kurz zuvor zum Angriff nach vorn geschickt wurden, zurück Richtung Westen. Es dauerte aber noch eine Stunde, bis beide endlich deutsche Stimmen hörten. Bernd Erning, Bauer aus dem Münsterland, sprach ihn im breitesten westfälischen Platt an und zog ihn raus.
»Wie viele?«, fragte Fischer schnell und mit schlechtem Gewissen, denn er hatte sich von seinem Zug getrennt, ihn allein
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