Die Lilith Verheißung: Thriller (German Edition)
keine Magie sei. Und keiner solle ihr einreden, dass sie verrücktsei. Er hätte seine Gabe zu oft falsch eingesetzt, aber jetzt, wo er die heilige Maria, die Muttergottes, gesehen habe, da wüsste er, wofür die Gabe gut sei. Sie solle darüber schweigen, und erst wenn er seine Haftstrafe abgesessen habe, würde er ihr die weiteren Geheimnisse erklären. So wuchs sie bis zu ihrem sechsten Lebensjahr bei Pflegeeltern in dem kleinen Ort südlich der Kurstadt Bad Reichenhall auf. Dann hatte man von dem stillen, etwas zurückgeblieben wirkenden Kind genug. Wieder wurde es weitergereicht. Ein Freund der Familie nahm sie mit nach Österreich in die Nähe von Linz. Dort machte sie eine Lehre als Schneiderin und fuhr Tag für Tag mit ihrem Fahrrad an der Donau entlang hinunter in die Kreisstadt und am Abend wieder hinauf. Als sie sechzehn Jahre alt wurde, kam ihr Pflegevater morgens in ihr Zimmer, drückte seine schwielige Hand auf ihren Mund und prophezeite ihr, dass, wenn sie nur einen Ton sagen würde, er ihre für die Schneiderei so wichtigen Finger brechen würde. Am nächsten Tag fuhr sie wieder mit ihrem Rad hinunter und wieder hinauf. Sie verstand nicht, warum sie das Erlebte nicht vorhergesehen hatte. Alles, was sie selbst betraf, schien sie nicht erkennen zu können. Und so sah sie auch nicht voraus, dass zehn Monate später ihr leiblicher Vater draußen im Schnee stand. Sie sah, wie der Pflegevater herausstapfte, sah, wie er die Hand hob, und sah auch, wie ihr Vater nach zwölf Jahren Haft dem großen Mann gegen den Kehlkopf schlug. Sie flüchteten gemeinsam noch in der Nacht über die Grenze nach Deutschland und schliefen in Scheunen, bei zwielichtigen Freunden aus der Knastzeit oder in leer stehenden Wohnwagen. Er erklärte ihr die Kräfte, die sie besaßen. Auch schon sein Vater hatte sehen können. Nach drei Wochen wurden sie von einem deutschen Sondereinsatzkommando gestellt. Der Schnee taute, und wie der Vater so dalag, mit einer Salve aus einer Maschinenpistole wie ein wild gewordener Ochse aus einem Viehtransport niedergestreckt, beschloss Maria Schondelmaier, ein anderes Leben zu führen. Heute gab es sie nicht mehr, heute gab es nur die »Prophetin«.
Der Bürgersaal der kleinen Ortschaft war bis auf den letzten Platz gefüllt. Sie standen eng aneinandergelehnt an den Wänden, noch draußen in der Vorhalle hatten sich Trauben von Menschen gebildet. Sie alle wollten sie hören. Hinter ihr am Ende des Saals wachte ein überlebensgroßes Kruzifix mit einem leidenden Jesus über die Menschen. Es war warm, die Fenster blieben angesichts der klirrenden Kälte draußen geschlossen. Es roch nach nassen Jacken, Mundgeruch und säuerlichem Schweiß. Alle flüsterten nur. Keiner wollte die Aura der Prophetin stören. Die saß auf einem Stuhl hinter einem Paravent. Statt der üblichen DVD s, Flyer, Bücher und anderem Merchandising, das solche Veranstaltungen wie ein Putzerfisch begleitete, hing nur ein Plakat im Raum. Es zeigte das Profil der Prophetin und dahinter eine aufgehende Sonne, die das Haupt der Frau illuminierte.
Der Pfarrer der örtlichen Gemeinde konnte solche Umtriebe nicht gutheißen. Aber da bereits einen Tag zuvor die Familie des Bürgermeisters eine Privatsitzung bekommen hatte, lief das Ansinnen des Geistlichen ins Leere. Die Begeisterung der Menschen hatte sich nicht über die Medien verbreitet. Es war von Ohr zu Ohr, von Wirtshaus und Friseurgespräch in die Häuser und Köpfe der Menschen gedrungen. »Die Prophetin kommt, sie heilt. Sie kennt die Zukunft«, ging es durch die Gemeinden. Wenig stand über sie und ihre Bewegung geschrieben. Und trotzdem waren auch aus den Nachbargemeinden Menschen aller Altersstufen gekommen.
Keiner ihrer auch hier anwesenden Anhänger trug eine auffällige Kleidung oder ein Abzeichen. Sie waren nicht zu erkennen. Zuweilen griffen sie ordnend ein, wenn eine alte Frau versuchte, aus ihrem Rollstuhl zu steigen und die Prophetin zu umarmen. Aber keine grimmigen oder gar beseelten Gesichter waren zu sehen. Immer stickiger wurde die Luft. Wasserflaschen wurden an die Menschen gereicht, die gierig daraus tranken. Die schwer körperlich Behinderten schrien und wurden von ihren Angehörigen mühsam beruhigt. Keiner, der nach wenigen Minuten hinter dem Paravent hervorkam oder geführt wurde, zeigte eineRegung. Sie gingen stumm aus dem Raum, nicht nach rechts oder links blickend.
Für einen Augenblick machte die Frau eine Pause und trat vor den Paravent. Sie hatte ihr
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