Die Lilith Verheißung: Thriller (German Edition)
neugierige Insekten aussehen, die ihre Köpfe nach links und rechts drehten.
»Zum Krankheitsverlauf: Nach Fieber und Gliederschmerzen, den ersten Symptomen, bricht die Krankheit auf der Haut des Patienten aus. Die Pusteln verschmelzen miteinander, und die Haut wird von Blut unterspült. Sie wird dunkel und aufgedunsen. Es bilden sich nach und nach Runzeln wie bei einem alten Menschen, nur eben im Stundentakt. Im Weiß der Augen bilden sich rote Flecken, und dickes schwarzes Blut beginnt aus allen Körperöffnungen zu tropfen. Das war der uns bekannte Verlauf der Pocken. Die hier in München nun aufgetretene Form ist schwerwiegender. Wir haben Fotos von Patienten im Klinikum rechts der Isar machen lassen.«
Auf einer großen Leinwand erschien das erste etwas unscharfe Bild. Es zeigte den Oberkörper und das schmerzverzerrte Gesicht eines Mannes mittleren Alters.
Der Arzt fuhr trotz des Raunens fort: »Das ist der schlimmste Verlauf, das sind hämorrhagische Pocken. Die Haut wirft keine Blasen, sie wird schwarz. Sie wirkt wie verkohlt. Bei dieser Form erleidet das Immunsystem einen Schock, bildet keinen Eiter und die Viren befallen alle lebenswichtigen Organe. Wichtig ist, dass die Krankheit zwar entsetzliche Schmerzen hervorruft, jedoch keine Ohnmacht und keinen Dämmerzustand zulässt. Der Patient bleibt hellwach, erlebt das Martyrium bei vollem Bewusstsein. Die Zytokine, die Botenmoleküle, mit deren Hilfe die Zellen des Immunsystems untereinander kommunizieren, geraten durcheinander. Wir nennen es den Zytokinensturm. Zum Schluss fällt der Blutdruck, das Herz rast, und es kommt zum Atemstillstand. Man kann kaum qualvoller sterben.«
Für einige Sekunden war es absolut still im Raum und nur die hektischen Rufe aus den Nebenräumen und das Läuten derTelefone drangen herein. Der Oberbürgermeister gab das Wort weiter an den Leiter des Katastrophenschutzes, Dr. Kopper. Der erhob sich, steckte einen Speicherstick in den Computer am Kopfende des Tisches und begann seinen Vortrag.
»Pro Stadtteil werden derzeit drei Impfstationen errichtet. Bis 20 Uhr dürfte die erste Station einsatzbereit sein. In 78 Stunden könnten wir 50 Prozent der Stadtteile versorgt haben. Wir rechnen grob mit einem Ansturm von bis zu 10000 Menschen pro Tag. Die Fernsehsender draußen in Unterföhring und die Radiostation im Stadtgebiet senden noch, aber die ersten Redaktionen berichten schon, dass die Mitarbeiter zu Hause bleiben. Spätestens mit der Ausgangssperre wird sich das Thema freie Presse erledigt haben.« Er lächelte. Wer sich wie Kopper jahrelang bei Großeinsätzen mit halbsmarten Medienvertretern herumschlagen musste, immer auf der Hut, dass ein Skandal erfunden oder aufgedeckt wurde, der freute sich in diesen düsteren Stunden über die Ängstlichkeit der sonst so selbstbewusst daherkommenden Journaille. »Der Andrang an den Stationen wird groß sein. Anfangs wird es mit Chaos und Reibereien einhergehen, aber das bekommen wir in den Griff. Personal wird aus den Krankenhäusern requiriert, ein Einsatzplan zusammengestellt. Bei Bedarf greifen wir auf niedergelassene Ärzte zurück. Das Gesetz gibt uns da viel Handlungsspielraum. Allerdings haben sich bereits einige freiwillig gemeldet. Es gibt jedoch ein Problem. Die Melderegister sind veraltet, sie basieren auf der Volkszählung aus den Achtzigern. Ich bin mir also nicht sicher, ob wir alle Einwohner erreichen. Um das sicherzustellen, habe ich in der letzten Stunde zusammen mit dem Polizeipräsidenten folgende erste Maßnahmenkette erarbeitet. Ich würde sie jetzt mit den Kollegen abgleichen.«
Auf der Leinwand erschien ein Fünfpunkteplan.
»Also erstens: Völliger Stillstand aller Nahverkehrsmittel wie Bus, Bahn und Tram.«
Der zuständige Kollege rief nur ein kurzes »Ist erfolgt!«.
»Sperrung aller Zufahrtswege sowie aller innerstädtischen Straßen für den Individualverkehr.«
»Vor einer Stunde erfolgt.«
»Zwangsräumung und Umbettung der Krankenhäuser für Quarantänestationen.«
»Das läuft noch und gestaltet sich ausgesprochen schwierig. Wir haben etliche Patienten, die dringend operiert oder notversorgt werden müssen. Eine Evakuierung der großen Häuser ist in den nächsten 24 Stunden absolut unrealistisch.«
Der Virologe des Gesundheitsamtes runzelte die Stirn. »Sie kennen die hohe Verbreitungsgefahr dort?«
»Ja, Herr Kollege, aber ich kann einen Infarktpatienten nun einmal nicht vertrösten. Dann würde er sterben.« Die letzten Worte hatte der
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