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Die linke Hand Gottes

Die linke Hand Gottes

Titel: Die linke Hand Gottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Hoffman
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lachten über diesen oft gehörten Spruch der Erlösermönche.
    »Nur noch zwei Tage.«
    »Wir sollten ihn dazu überreden, morgen aufzubrechen.«
    »Abgemacht.«
    Conn Materazzi kultivierte mit wachsendem Vergnügen die Rolle des langmütigen Meisters eines lächerlichen Tölpels – unter allgemeiner Bewunderung seines Anhangs. Zwischen derben Schlägen aus der Hand Solomon Solomons zauste er Cales Haar wegen angeblicher Tapsigkeiten, als wäre er ein alter Familienhund, zu nichts mehr zu gebrauchen, aber von allen bedauert. Dazu gab es mit der Hand Klapse auf den Hinterkopf und mit dem flachen Schwertblatt Schläge auf die Hinterbacken. Cale wurde darüber stiller und stiller. Das entging Conn keineswegs, er sah, dass die Prügel des Aufsehers bei Cale ohne Wirkung blieben, aber seine boshaften Schikanen, so gut er sie auch bemäntelte, kränkten den Jungen in der Seele. Conn Materazzi war ein Ungeheuer, jedoch kein Narr.
    Die Materazzi waren für zweierlei berühmt: zum einen für ihre Gewandtheit im Umgang mit den Waffen und ihren unbezähmbaren Kampfesmut, zum anderen für ihre Frauen, deren ungewöhnliche Schönheit mit ebensolcher Kälte gepaart war. Es hieß, die Todesbereitschaft der Materazzi in der Schlacht könne nur verstehen, wer schon einmal mit ihren Frauen zu tun gehabt hatte. Ein Materazzi, ob als Einzelkämpfer oder in der Truppe, war eine Furcht einflößende Kampfmaschine. Wer aber wirklich einmal einer Materazzi-Frau begegnete, der machte Bekanntschaft mit einem herablassenden, stolzen und abweisenden Wesen, wie er es zuvor noch nie erlebt hatte. Und gleichzeitig war er von ihrer Schönheit so geblendet, dass er wie die Materazzi-Männer für ein Lächeln oder einen Kuss von diesen Wesen alles tun würde. Obwohl die Materazzi fast ein Drittel der bekannten Welt militärisch, politisch und wirtschaftlich fest in ihrer Hand hatten, durften sich die Unterworfenen damit trösten, dass ihre Eroberer, so groß ihre Vormacht auch sein mochte, die Sklaven ihrer Frauen waren.
    Da die Prügel und die Schikanen für Cale kein Ende nahmen, nutzten die drei ehemaligen Zöglinge die übrige Zeit, um so viel wie möglich zu stehlen. Das war nicht besonders schwierig oder gefährlich, denn die Materazzi hatten ein sehr merkwürdiges Verhältnis zu ihrem Besitz. Kaum hatten sie etwas erstanden, waren sie auch schon bereit, es wieder wegzuwerfen. Da die Zöglinge kein Recht auf Privatbesitz hatten, verwunderte sie das nicht wenig. Zuerst stahlen sie Dinge, die ihnen nützlich schienen – ein Taschenmesser, ein Wetzstein -, und selbstverständlich Geld. Ihre Herrschaften ließen Geld, oft erstaunlich hohe Beträge, überall herumliegen. Später fragten sie den Betreffenden einfach, ob sie putzen und aufräumen sollten, denn man trug ihnen oft auf, die Sachen einfach wegzuwerfen. Innerhalb von vier Tagen hatten sie mehr Dinge, sei es gestohlen, sei es fortgeschafft, als sie selbst gebrauchen konnten: Messer, Schwerter, ein leichter, an einer Stelle beschädigter Jagdbogen, den Kleist reparierte, ein kleiner Kessel für unterwegs, Essschalen, Besteck, Seil und Garn, Proviant aus den Küchen und einen erklecklichen Geldbetrag, den sie unmittelbar vor ihrer Flucht durch Abstauben in den Räumen ihrer Herrschaft noch beträchtlich vergrößern wollten. Die Beute hatten sie in verschiedenen Ecken und Winkeln versteckt, aber das Risiko, entdeckt zu werden, war gering, weil niemand etwas vermisste. Sobald Kleist und Vague Henri begriffen hatten, dass man sich hier einen faulen Lenz machen konnte, indem man von den Sachen lebte, die die anderen wegwarfen, schmerzte sie der Gedanke, aus diesem Schlaraffenland fortziehen zu müssen.
    Am Nachmittag des fünften Tages war Cale auf Diebestour in dem Teil der alten Festung, der für Schüler verboten war. Natürlich hieß »verboten« in Memphis nicht dasselbe wie in der Ordensburg. Dort bedeutete schon ein kleiner Verstoß vierzig Hiebe mit dem nietenbeschlagenen Ledergürtel – eine Strafe, an der man verbluten konnte. Hier in Memphis hatte man höchstens eine leichte Unannehmlichkeit zu gewärtigen oder etwas, aus dem man sich leicht herausreden konnte. Für den Fall, dass Cale geschnappt wurde, hatte er schon die Ausrede parat, er habe sich verlaufen.
    Er streifte durch den ältesten Teil der Festung, der zugleich der älteste Teil der ganzen Stadt war. Die Mauern von Memphis, die auf der Innenseite als Speicher genutzt wurden, hatte man teilweise abgerissen und an ihrer

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