Die linke Hand Gottes
Stelle elegante Wohnungen mit den bei den Materazzi so beliebten großen Fenstern gebaut. Hier aber im ältesten Stadtteil herrschte Dunkelheit, Licht fiel nur durch die engen Gassen ein, die vor der Mauer einmündeten. Diese Gassen waren als Zugangswege bei Belagerungen, aber nicht zum Lustwandeln gedacht. Cale erklomm gerade einen steinernen, ohne Brüstung oder Geländer gesicherten Treppenaufstieg, wo man leicht zwanzig Klafter tief auf die Pflastersteine fallen konnte, als ihm von oben Schritte entgegenkamen. Da die Treppe einen Bogen machte, sah er nicht, wer von oben kam, aber der Betreffende hatte eine Laterne bei sich. Cale drückte sich in eine Mauernische und hoffte, nicht gesehen zu werden. Die eiligen Schritte und der Lichtschein bewegten sich auf ihn zu. Er machte sich noch kleiner, und tatsächlich bemerkte das Mädchen ihn nicht, als sie an ihm vorbeitrat. Doch die Laterne warf nur einen trüben Lichtschein, und die Treppensteine waren uneben. Sie hatte die Kurve viel zu schnell genommen, geriet aus dem Gleichgewicht und blieb mit der Ferse an einer Unebenheit hängen. Sie rutschte und stieß, als ihr die Laterne entglitt, einen kurzen Schrei aus. Sie wäre zweifellos über den Rand in die Tiefe gestürzt, wenn Cale sie nicht am Arm ergriffen und zurückgehalten hätte.
Über sein plötzliches Auftauchen aus dem Nichts schrie sie laut auf.
»Herrje!«
»Keine Angst«, beruhigte sie Cale. »Du wärst beinahe gestürzt.«
»Oh!«, sagte sie, als sie die zerbrochene, aber immer noch brennende Laterne unten auf dem Pflaster sah. »Oh, hast du mich erschreckt.«
Cale lachte. »Du kannst von Glück reden, dass du noch lebst und erschreckt werden kannst.«
»Ich hätte mich schon noch gefangen.«
»Hättest du nicht.«
Sie schaute in den Abgrund und dann zu Cale. Er sah nicht so aus wie die anderen Jungen oder Männer, die sie kannte: nur mittelgroß, pechschwarzes Haar und mit einem Ausdruck in den dunklen, alten Augen, den sie überhaupt nicht deuten konnte.
Plötzlich überfiel sie Furcht.
»Ich muss gehen«, sagte sie. »Danke.« Und schon eilte sie die Treppe hinunter.
»Vorsicht«, mahnte Cale sie o leise, dass sie ihn vermutlich nicht hören konnte.
Dann war sie fort.
Cale stand da wie geblendet. Auch klugen, gestandenen Männern hätte dieses Mädchen, das Cale zufällig hier über den Weg gelaufen war, den Kopf verdreht. Es war niemand anderes als Arbell Materazzi, die Tochter von Marschall Materazzi, dem Dogen von Memphis. Doch niemand außer ihrem Vater dachte bei ihr an ihre Familienherkunft. Für alle anderen war sie »Arbell Schwanenhals« und allen galt sie als die schönste Frau nicht nur in Memphis, sondern im ganzen weiten Reich der Materazzi. Sie glich einem Schwan ganz und gar.
Wie anders wäre die Geschichte verlaufen, hätte Cale sie nicht an jenem Nachmittag auf der Treppe der alten Festung getroffen oder hätte er dort nicht die Geistesgegenwart besessen, sie zurückzuhalten, denn sonst hätte sie sich den ach so schönen Schwanenhals auf dem harten Pflaster gebrochen.
Wenige Stunden später teilte ein liebesbetörter Cale einem nachdenklichen und einem grollenden Gefährten mit, dass er es sich anders überlegt habe und in Memphis bleibe. Selbstverständlich nannte er nicht den wahren Grund, meinte vielmehr, er habe in seinem Leben schon viel schlimmere Schläge eingesteckt als die des Aufsehers Solomon Solomon und werde die Torheiten eines Conn Materazzi künftig einfach ignorieren. Warum sollte er böses Blut wegen der albernen Späße eines verzogenen Lümmels heraufbeschwören, wenn sie so viele gute Gründe zum Bleiben hatten? Vague Henri und Kleist waren zwar verblüfft, zogen Cales Worte aber nicht in Zweifel. Nur Henri war nicht überzeugt.
»Glaubst du ihm?«, fragte er Kleist, als er allein mit ihm war.
»Warum sollte ich mir darüber den Kopf zerbrechen? Mir ist es ja recht, wenn er bleiben will. Er soll bloß nicht immer so tun, als wäre er der liebe Gott in Person.«
In den folgenden Tagen beobachtete Vague Henri genau, wie Cale weiterhin die Schläge und boshaften Neckereien einsteckte. Dass Cale lächerlich gemacht wurde, bereitete ihm die größten Sorgen. Conn Materazzi mochte ein verzogener Lümmel sein, in der Eleganz der Kampfkunst war er jedoch unübertroffen. Nur bedeutend ältere und schlachtenerprobte Männer aus der Schar der Materazzi-Elite überwanden ihn bei den beängstigend realistischen Kämpfen, die jeden Freitag den ganzen Tag über
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