Die Liste der vergessenen Wünsche: Roman (German Edition)
Schülern aufgetragen, sich eine persönliche Zeitkapsel anzulegen. Aus einem abgegriffenen Lexikon hatte sie der Klasse vorgelesen: »Eine Zeitkapsel ist ein Behältnis, das dazu verwendet wird, für die Nachwelt eine Auswahl an Objekten zu bewahren, die als charakteristisch für das Leben in einer bestimmten Epoche erachtet werden .« Nachdem sie ein paar Richtlinien an die Tafel geschrieben hatte, die beim Füllen der Kapsel zu befolgen waren, gab Miss Jordain jedem ihrer Schüler eine leere Glaskapsel und kündigte an, dass sie sie eine Woche später gefüllt wieder einsammeln würde. »Ich möchte, dass ihr alle ganz genau darüber nachdenkt, welche persönlichen Gegenstände und Informationen ihr in eure Zeitkapsel packt«, ermahnte sie ihre Schüler. »Dabei dürft ihr nicht aus den Augen verlieren, dass sie den Menschen in der Zukunft dienen und späteren Generationen ein nützliches Andenken an eure Lebensgeschichte sein soll, damit sie nicht vergessen wird oder verloren geht wie Atlantis oder Lemuria.«
Nicht in ihren wildesten Träumen hätte Clara daran gedacht, ihre Zeitkapsel einmal wieder zu Gesicht zu bekommen. Tatsächlich hatte sie sie völlig vergessen. Deshalb lief es ihr nun, als sie Jahrzehnte später im Musikzimmer ihrer Mutter saß und das Relikt aus einer anderen Zeit in Händen hielt, vor Aufregung kalt den Rücken hinunter.
Ihre Kapsel aus der fünften Klasse enthielt eine interessante Sammlung von Kostbarkeiten: ein Foto, das nach einem Schneesturm im Januar aufgenommen worden war, darauf zu sehen: Clara, Libby und Leo, wie sie die Köpfe aus dem eiszapfenverhangenen Fenster der Ahornburg steckten; eine zerknitterte Eintrittskarte für Disney World; ein einzelnes Päckchen McDonald’s Ketchup; ein Pfadfinderabzeichen, das Clara und ihre Sippe erhalten hatten, nachdem sie gelernt hatten, mit dem Kompass umzugehen; und ein brüchiger Backenzahn. Libby machte ein entsetztes Gesicht, als Clara den Zahn hervorholte. »Woher hast du den denn?«, murrte sie missbilligend. »Schuldet dir die Zahnfee etwa noch Geld?«
Ganz unten in der Zeitkapsel lag, noch immer fein säuberlich in ihrem rosa Umschlag, die Originalgeburtsurkunde ihrer Puppe Natalie Marissa.
»Meine Güte. Erinnerst du dich, was du alles angestellt hast, um diese Puppe zu bekommen?« Libby lächelte. »Ich hab dich nie wieder so wild entschlossen gesehen wie damals. Was für eine Hartnäckigkeit du da an den Tag gelegt hast …« Kopfschüttelnd musste sie bei dem Gedanken daran kichern. »Nichts konnte dich davon abbringen.«
Clara erinnerte sich an ihre Mission, eine Puppe aus der Cabbage-Patch-Kids-Kollektion zu bekommen. Sie hatte Spielzeugladen um Spielzeugladen durchkämmt und überall ihren Namen auf die Wartelisten setzen lassen – einmal hatte sie sogar mit dem Gedanken gespielt, die Puppe ihrer Freundin Stella zu cabbage-patch-nappen. Doch schließlich, nachdem sie über ein Jahr alles Mögliche versucht hatte, wurden ihre Gebete erhört. In dem Augenblick, als sie Natalie Marissa im Arm hielt und ihren süßlich frischen Plastikgeruch, vermischt mit Babypuderaroma, einatmete, waren all der Kummer und die Enttäuschungen in ihrem Kampf darum, ein Cabbage Patch Kid zu adoptieren, sofort verflogen gewesen. Damals sah Clara in Natalie Marissas Geburtsurkunde den konkreten Beweis dafür, dass das Gute tatsächlich zu denen kommt, die Geduld haben und an eine Sache glauben. Also wanderte sie in ihre Zeitkapsel.
Clara starrte geistesabwesend die Geburtsurkunde an. Sie wünschte sich, sie hätte heute bloß einen winzigen Bruchteil ihrer kindlichen Hoffnung von damals. Wenn das nur möglich wäre …
Das letzte Relikt in der Glasröhre war einer ausdrücklichen Vorgabe von Miss Jordain geschuldet. Clara überkam eine Flut der Erinnerungen, als sie es behutsam herausnahm. Sie starrte das fein säuberlich gefaltete weiße Blatt Papier eine Weile an, bevor sie es vorsichtig auseinanderfaltete. Darauf stand, nach Wichtigkeit geordnet, eine detaillierte Liste der Dinge, die sie erreicht oder erlebt haben wollte, bevor sie fünfunddreißig war. Miss Jordains Aufgabe hatte eigentlich gelautet, eine Liste der Dinge anzulegen, die man bis zu seinem Lebensende erfüllt haben möchte, was natürlich bedeutete, wenn man alt und grau geworden war, Enkelkinder hatte und einem Haare an Stellen wuchsen, wo sie eigentlich nicht hingehörten. Doch als Clara Miss Jordain gebeten hatte, die Zeitspanne ihrer Liste ändern zu dürfen, und ihr
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