Die Liste der vergessenen Wünsche: Roman (German Edition)
saukomischen Anwaltswitz erzählt hatte und damit die gesamte Aufmerksamkeit auf sich gezogen und stürmischen Beifall geerntet hatte. Sie konnte sich zwar ums Verrecken nicht mehr an den Witz erinnern, aber sie erinnerte sich mit erschreckender Klarheit an Sebastians Gesichtsausdruck – wie das Grübchen auf seiner linken Wange sichtbar geworden war, wie er die Augen zusammengekniffen hatte, wie er lachend seinen Kopf zurückwarf, sich mit der Hand auf den Oberschenkel klopfte und Mühe hatte, die Cranberrysoße nicht auszuspucken, als das ganze Zimmer in Gelächter ausbrach. Der Witz war in der Tat ein solcher Erfolg gewesen, dass Clara richtig dick auftrug, sich verbeugte und alberte: »Vielen Dank, meine Damen und Herren! Ich trete noch die ganze Woche hier auf. Vergessen Sie das Trinkgeld nicht!«
Als sie später an diesem Abend im Bett lagen und den Abend Revue passieren ließen, wie sie es oftmals taten, lachten sie und Sebastian noch einmal darüber. Das waren wahrlich fantastische Feiertage gewesen … Aber um die Frage ihrer Mutter zu beantworten: Gab es überhaupt je einen Moment, in dem sie nicht an Sebastian dachte? Clara schaute weg und nickte bloß, während sie gegen ihre Tränen ankämpfte, die sich schon, seit sie heute Morgen aufgestanden war, ihren Weg zu bahnen versuchten. »Das Kleid ist hübsch. Danke, dass du es mir leihst.«
Als der letzte Bissen des Kürbiskuchens verputzt war und eine Runde Verdauungsschnäpse ausgeschenkt worden war, zogen sich die Gäste ins Musikzimmer zurück und erwarteten die Hauptattraktion des Abends: Libbys alljährliches Medley ihrer berühmtesten Werbemelodien.
»Herrschaften!« Leo stand mit vom Wein ganz rosigen Wangen vor der schnatternden Gruppe. »Das Tryptophan wird bald seine Wirkung entfalten, also komme ich nun ohne weitere Umschweife dazu, Ihnen nur heute Abend die unvergleichliche Libby Black anzukündigen!«
Im Zimmer brach vergnügter, feuchtfröhlicher Jubel aus, und einer der Gäste, der lässig in einem Clubsessel hing, pfiff sogar.
»Gut, ihr kennt ja mittlerweile das Prozedere.« Libby reichte Leo ihr Cognacglas und nahm hinter ihrem geliebten Steinway Platz. »Die Texte kennt ihr alle, also ist jeder eingeladen mitzusingen. Nur nicht schüchtern! Würde ist total überbewertet!«
»Du bist unser Star!«, grölte Tante Billie und fummelte an der bauschigen Füllhorn-Applikation auf ihrem Pulli herum, die daraufhin plötzlich blinkend zu leuchten begann.
» Du könntest allerdings ruhig ein bisschen schüchterner sein.« Libby zwinkerte ihr zu wie eine routinierte Barsängerin. Dann landeten ihre Finger endlich dort, wo sie hingehörten, und fingen an, die Klaviertasten zu kitzeln. Sie eröffnete die Show mit einem langsamen, romantischen Song: » Zwei Bouletten, Rindfleisch pur … Spezialsoße … Salatblatt und Käse … Essiggurken, Zwiebelringe in einem Sesambrötchen … «
Normalerweise konnte diese skurrile Tradition Clara gar nicht genug amüsieren, doch an diesem Abend hätte es schon eines Wunders bedurft, um das zu bewirken.
Nach einer besonders schwungvollen Polka für ein Mittel gegen Sodbrennen und Magenbeschwerden schaltete Libby wieder einen Gang zurück und spielte die ergreifend liebliche Grußkartenmelodie, für die sie ihren ersten Clio Award bekommen hatte. Sich mit geschlossenen Augen theatralisch auf ihrem Klavierhocker hin und her wiegend, trällerte sie in schmachtendem Tonfall: » Mit Stempel und Siegel schwör ich feierlich «, einige der Gäste stimmten mit ein, » mein Leben wär rein gar nichts ohne dich …«
Tränen liefen Clara die Wangen hinunter.
Als Tante Billie, die neben Clara auf dem Orientteppich saß, in ihre Richtung blickte, bekamen ihre blutunterlaufenen Augen einen ängstlichen Ausdruck. »Was ist denn mit dir los?«, flüsterte sie und beugte sich zu ihr hinüber.
»Nichts«, flüsterte Clara leise zurück, und vor Kummer verkrampften sich ihre Glieder bis zum Äußersten. »Warum?«
»Du weinst«, antwortete Tante Billie und legte ihre Hand sachte auf Claras.
» Ich? «
»Ja, du . Was ist denn los?«, hakte Tante Billie noch einmal glucksend nach.
Irritiert und verloren in ihrer Trauer, die sie wie ein Nebel umgab, berührte Clara mit der freien Hand ihre Wange. Ihre Fingerspitzen fühlten die warmen, nassen Tränen, die sie unbewusst vergossen hatte. Sie senkte den Kopf, und dabei landete eine einzelne Träne auf Tante Billies Hand, die sie daraufhin noch ein bisschen fester
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