Die Liste der vergessenen Wünsche: Roman (German Edition)
Idee.«
Clara warf ihrem Bruder einen Blick zu, der ihm klarmachen sollte, er sei völlig bekloppt. »Ich hab bloß Spaß gemacht. Bloß Spaß …«
»Ich aber nicht«, sagte Leo. »Du brauchst einen Aktionsplan – irgendwas, das dich aus diesem schrecklichen Fahrwasser bringt, in dem du dich gerade befindest. Klar, es mag ein wenig eigenwillig klingen, aber es ist auch nicht weiter hergeholt als einige der anderen Methoden, mit denen du versucht hast, über deine Trauer hinwegzukommen. Also könnte es durchaus einen Versuch wert sein.«
Clara starrte Leo entgeistert an. »Mann … du meinst das wirklich ernst, oder?«
»Vollkommen.«
»Ach komm, Leo. Ich bin nicht mehr in der fünften Klasse. Ich bin keine zehn mehr.«
»Nein, aber ich sage dir jetzt mal was. Ich habe gesehen, wie deine Augen beim Lesen des Artikels zu strahlen angefangen haben, als wärst das wieder du. Da warst du für einen kurzen Moment nicht mehr …«, er suchte nach dem richtgen Wort, »… leblos .«
Clara zuckte zusammen.
»Es tut mir leid.« Er blickte schuldbewusst drein. »Ich wollte nicht gemein sein.«
»Ich weiß«, seufzte Clara und schloss die Augen, weder wirklich wach noch schlafend. Sie war einfach nur verdammt müde von alledem. Sie zwang sich zu einem brüchigen, unnatürlichen Lachen. »Verdammt … Lass uns die Dinge beim Namen nennen …« Sie ließ den Kopf sinken und starrte auf ihren Schoß. Dann gestand sie leise: »Ich fühle mich wirklich leblos. Genau genommen käme tot der Sache näher. Und anscheinend gibt es nichts, was ich dagegen tun kann.«
»Mein Güte, Clara! Was würde Sebastian sagen, wenn er dich so reden hören würde?«
Sie zuckte matt und abweisend mit den Schultern. »Spielt keine Rolle … Er ist weg.«
»Klar spielt das eine Rolle!« Leo, der sichtlich erschüttert war, schlug mit der Faust auf den Tisch. »Ich weiß ganz sicher, er würde dir sagen, dass du nicht tot bist – ganz und gar nicht. Also musst du tun, was in deiner Macht steht, damit du dich nicht mehr so fühlst. Selbst wenn das bedeutet, dass du ein kunstvolles Lebkuchenhaus baust!« Leo holte tief Luft. Als er weiterredete, klang seine Stimme sanfter, aber noch eindringlicher. Er blickte Clara direkt in die Augen. »Du weißt genauso gut wie ich, dass es Sebastian kaputtgemacht hätte, dich so zu sehen.«
Clara streckte den Rücken durch und setzte sich aufrecht hin. Sie stieß einen tiefen, gepressten Seufzer aus. »Vielleicht hast du recht«, räumte sie ein. »So verrückt – und damit meine ich wirklich verrückt – es auch klingt, aber vielleicht würde Sebastian mir raten, dieser dummen, alten Zeitkapsel-Liste eine Chance zu geben.«
»Vielleicht«, sagte Leo nachdenklich und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf seine Zeitung, denn er wusste, dass seine Schwester am besten nachdenken konnte, wenn man sie nicht dabei beobachtete.
Später an diesem Nachmittag lag Clara auf ihrem Bett und versuchte, sich auf einen Krimi zu konzentrieren, den sie am Flughafen auf dem Weg nach Chicago mitgenommen hatte. Aber nachdem sie Seite um Seite umgeblättert hatte, ohne auch nur ein Wort gelesen zu haben, gab sie schließlich auf und machte mit einem schweren Seufzer erst das Buch und dann ihre Augen zu. Früher war sie eine Leseratte gewesen und hatte mindestens einen Roman pro Woche verschlungen. Immer wenn Sebastian es sich mit Podologie heute oder dem Journal des Podologenverbands (seine Lieblingslektüre!) im Bett gemütlich gemacht hatte, kuschelte sie sich dazu und vergrub die Nase in einem Titel aus der Bestsellerliste der New York Times oder einem alten Klassiker, den sie noch nicht gelesen hatte. Es war nicht unbedingt die coolste Art und Weise, einen Sonntagnachmittag zu verbringen, aber für sie beide war gemeinsam stundenlang im Bett herumzulungern nicht bloß ein Genuss, sondern geradezu vollkommen. Abgesehen davon führte das Ganze für gewöhnlich zu ziemlich gutem Sex. Oder zu einem ziemlich guten Nickerchen. Oder zu beidem.
Clara konnte nicht aufhören, die Frühstücksunterhaltung mit Leo wieder und wieder in Gedanken zu drehen und zu wenden. Sicher, als sie zum ersten Mal erwähnt hatte, alles, was auf ihrer Liste stand, umzusetzen, hatte sie bloß einen Witz gemacht. Aber jetzt, je länger Clara darüber nachdachte, desto einleuchtender erschien es ihr. Schließlich war sie bereits am Ende der sprichwörtlichen Fahnenstange angekommen, und hoffnungsloser konnte die Sache kaum werden. Außerdem konnte
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