Die Liste der vergessenen Wünsche: Roman (German Edition)
sie nicht abstreiten, dass Billy/William Warrington zu küssen ihr einen wohltuenden, elektrisierenden Ruck versetzt hatte, wie sie das schon viel zu lange nicht mehr erlebt hatte. Diese Aktion hatte sie kurzfristig daran erinnert, dass sie am Leben war. Es war ein bisschen so, als wäre sie, wenn auch nur für einen kurzen, superschwulen, magischen Moment, aus einem tiefen, schweren Schlaf erwacht, nur um dann gleich wieder in seinen unbarmherzigen Bann gezogen zu werden.
Leo hatte recht. Sie hatte ihre Ambitionen verloren. Dabei wollte sie früher so viel … Geschäftsführerin von Scuppernong werden … Die Firma international erfolgreich machen … Einmal zusammen mit Sebastian das Nordlicht in Alaska sehen, bevor sie die Mutter von Julian und Edith, den Kindern, die sie einmal haben wollten, wurde … Kitschige Urlaubsfotos, auf denen sie alle die gleichen selbstgestrickten Pullis tragen, Mon Chéri, ihr Hund, eingeschlossen … Sommerferien zu Hause in Chicago mit Libby und Leo … Alle fünfzig Bundesstaaten der USA besuchen … Ein größeres Haus in einer schönen Ecke von Boston – nichts Großspuriges, bloß ein hübscher Fleck, an dem Julian und Edith (und die eineiigen Zwillinge namens Marsha und Barbra, die sie später noch bekommen würden, auch wenn sie dieses Thema Sebastian gegenüber noch gar nicht angeschnitten hatte) viel Platz zum Herumtollen und zum Fahrradfahren hätten und ein Baumhaus wie die Ahornburg bauen könnten … Alle kleinen Kunstobjekte und Zeichnungen, die die Kinder in der Schule anfertigten, sammeln und ihre Kindergedichte mehr wertschätzen als die der »großen Meister« … Sebastian beim Eröffnen seiner eigenen Praxis unterstützen, mit ihm an ihrer Seite alt und grau werden und es nie als selbstverständlich erachten, wie unglaublich glücklich sie waren …
Auch wenn Clara sich momentan so fühlte, wusste sie, dass sie nicht tot war. Und etwas in ihrem Leben musste sich ändern, damit sie aufhörte, sich so zu fühlen und sich so zu benehmen. In Anbetracht der unzähligen Versuche, die sie schon unternommen hatte, war sie nun ganz offiziell verloren genug, um sich zu fragen, ob die Lösung vielleicht, ganz vielleicht, in ihrer Zeitkapsel auf sie wartete.
Als Claras Augenlider sich zuckend wieder öffneten, schielte sie hinüber auf die blinkende Uhr auf ihrem Nachttisch. Sie war verblüfft, dass diese Idee eine geschlagene Stunde Purzelbäume in ihrem Kopf geschlagen hatte! Da wusste sie, dass etwas daran war. Vielleicht konnte ihre Zeitkapsel sie daran erinnern, wer sie einst gewesen war, bevor die Tragödie einen Schatten auf ihr Leben geworfen hatte und der betäubende, unheilvolle Bann auf sie gelegt worden war.
Oder vielleicht war sie einfach nur verrückt.
Möglich war beides. So oder so, sie hatte nichts mehr zu verlieren und konnte nur gewinnen, wenn sie es versuchte.
Am zweiten September würde sie fünfunddreißig werden, also blieben ihr für die Umsetzung ihrer To-do-Liste noch gut neun Monate.
Ohne weiter Zeit zu verlieren, sprang Clara aus dem Bett und eilte zu ihrer Kommode, um die Zeitkapsel herauszuholen.
Dezember
9
Clara kehrte nach Boston zurück, meldete sich zum Kurs Lebkuchenarchitektur für Fortgeschrittene an, bestellte ihr Abo des Boston Globe ab und kümmerte sich um einen Nachsendeauftrag für ihre Post an Libbys Adresse, weil sie sich noch nicht sicher war, wo sie während ihres vorübergehenden Aufenthalts in Chicago wohnen würde. Dann informierte sie den Bierkönig von Boston darüber, dass sie sein großzügiges Angebot für ein ausgedehntes Sabbatical nun doch annehmen wolle, packte ein paar Koffer und war am ersten Dezember wieder zurück in River Pointe. Auf einer Mission, die sogar sie selbst für verrückt hielt. Bisher hatte nichts funktioniert, und nun hatte Clara die aberwitzige Idee, dass ihre Zukunft, wenn sie denn eine hatte, von ihrer Zeitkapsel aus der Vergangenheit abhing.
An ihrem ersten Tag in ihrer alten Heimatstadt wachte Clara nach der langen Reise aus Boston ziemlich erschlagen und durcheinander auf. Sie hatte keine Ahnung, wo sie sich befand. Doch als sie sich aufsetzte und sich umsah, brachte Patrick Swayze sie schnell auf die richtige Spur.
Tja, jetzt geht’s los , sagte Clara sich. Sie warf noch einen Blick auf den Wecker auf ihrem Nachttisch. Er zeigte neun Uhr dreißig an und erinnerte sie daran, dass die Zeit verflog und sie am besten gleich loslegte. Immerhin hatte sie sich für bloß ein paar
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