Die Liste der vergessenen Wünsche: Roman (German Edition)
sollte. Doch dann beschloss sie, ihren Freund doch lieber nicht mitten in der Nacht zu stören. Was sollte sie ihm auch sagen? Dass sie gerade einen verstörenden Traum gehabt hatte, in dem Sebastian noch am Leben war und sie selbst eine Spitzenhäubchen tragende Plantagenbesitzerin? Sie erinnerte sich daran, dass Lincoln erwähnt hatte, ihm habe eines der Mantras der Anonymen Alkoholiker geholfen, mit der Trauer über den Tod seiner Frau zurechtzukommen. Anstatt sich mit dem »großen Ganzen« zu belasten, sei es ihm, so hatte er erklärt, leichter gefallen, sich darauf zu konzentrieren, »es durch den Tag zu schaffen, durch jede einzelne Stunde, jede Minute, ja, jede Sekunde«. Als er dann noch sein Gesicht zu einer albernen Grimasse verzogen und gesagt hatte, »denkst du nur an den nächsten Atemzug, dann vergeht dein Kummer wie im Flug«, hatte Clara lachend gesagt, dass dieser Reim perfekt wäre für eine dieser kitschigen Kondolenzkarten mit Regenbogen und den Sonnenstrahlen, die durch düstere Wolken brechen. Doch als sie nun weinend in ihrem Zimmer lag, überwältigt von Verzweiflung und Angst davor, dass sie dazu verurteilt wäre, ihr Gleichgewicht nie wiederzufinden, merkte sie, dass der Rat ihres alten Freundes durchaus Sinn ergab. Er war sogar tröstlich.
Clara beschloss, Lincoln anzurufen, wenn es weniger wahrscheinlich war, dass er schlief, und nahm von ihrem provisorischen Beistelltisch ein gerahmtes Foto, auf dem sie und Sebastian auf einem eleganten Galaempfang für das Bostoner Philharmonie-Orchester miteinander tanzten. Sie starrte es lange an, bevor sie es sich auf die Brust legte, direkt übers Herz, und endlich wieder einschlief.
Um Viertel nach sieben wachte sie auf und stellte fest, dass sich ihr lähmender Kummer mit der aufgehenden Sonne tatsächlich ein wenig gelichtet hatte.
Sie schätzte, dass sie Lincoln jetzt noch erwischen konnte, bevor er sich auf den Weg zur Arbeit machte, also putzte sie sich die Zähne, spritzte sich etwas kaltes Wasser ins Gesicht und rief ihn an.
Er war außer Atem, als er abnahm.
»Störe ich? Ich hoffe, mein Anruf kommt nicht ungelegen. Ich weiß, es ist ziemlich früh«, sagte Clara entschuldigend.
»Überhaupt nicht«, erwiderte Lincoln. »Was gibt’s?«
»Na ja …« Sie atmete geräuschvoll aus und streichelte Mon Chéri bedächtig den Rücken. »Ich hatte eine ziemlich harte Nacht.«
»Ich bin froh, dass du anrufst. Aber warum hast du dich nicht schon früher gemeldet? Ich erinnere mich genau, dir eindeutig gesagt zu haben, dass du dich direkt an mich wenden kannst – geh nicht über Los, nimm nicht die hundert Dollar, lauf direkt zu Linc .«
Clara lachte. »Mir scheint, du bist ein Monopoly-Fan.«
»Eigentlich bin ich eher der Scrabble-Typ. Aber es hätte keinen Sinn ergeben, wenn ich dir gesagt hätte, du sollst deine Buchstaben wählen und mich anrufen.«
»Stimmt. Ich mag Scrabble auch.«
»Dann sollten wir’s mal zusammen spielen«, schlug Lincoln vor. »Aber sag, wie geht’s dir jetzt?«
Clara hörte, wie jemand im Hintergrund ein unterdrücktes Niesen ausstieß. Da wurde ihr klar, dass Lincoln nicht allein war.
Eine Frau mit sexy rauer Stimme fragte: »Wer ist dran, Schatz?« Clara ging davon aus, dass es sich um Meg handelte, und hatte plötzlich ein schlechtes Gewissen wegen des Anrufs in aller Frühe. »Äh … Oh …«, stammelte sie, als sie daran dachte, wie atemlos Lincoln anfangs geklungen hatte, denn nun fürchtete sie, die beiden in einem intimen Moment gestört zu haben. »Ich fühle mich wirklich schon viel besser. Danke.« Sie zog peinlich berührt die Schultern hoch. »Und weißt du was, ich muss jetzt auflegen und mir eine Frittata machen.«
An Lincolns Ende blieb es kurz still. »Du musst dir eine Frittata machen?«
»Ja, das muss ich. Ich liebe Frittata. Und außerdem klingt es, als seist du beschäftigt«, sagte Clara hastig. »Ich leg dann mal …«
»Warte! C. J., warte mal! Bist du sicher, dass du okay bist? Glaub mir, ich weiß, wie schlimm …«
»Ja, ich bin sicher. Ehrlich. Ich fühle mich schon viel besser«, beteuerte sie betont gut gelaunt. »Deshalb ist es jetzt auch Zeit für eine Frittata.«
Nachdem er vorgeschlagen hatte, dass sie sich am selben Abend zum Essen treffen sollten, sagte Lincoln zu Clara, er werde sie später am Nachmittag anrufen, damit sie einen konkreten Plan machen könnten. Bevor er auflegte, hörte sie Meg noch säuseln: »Komm her, Süßer.« In Anbetracht der Tatsache, dass
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