Die Liste der vergessenen Wünsche: Roman (German Edition)
anzunehmen, dass so ein großartiges Wunder überhaupt wahr sein konnte. Aber so sicher wie die Sonne am Ende des Tages unterging, stand dort vor ihren Augen die wahre, einzige Liebe ihres Lebens. Zitternd streckte Clara die Hand aus und berührte Sebastians Arm. Sie wollte sich vergewissern, dass er kein Trugbild war. Die schöne Gestalt sah genauso aus wie Sebastian, sie roch genauso wie Sebastian, und als er schließlich den Mund aufmachte und sagte: »Hallo, Schatz. Hübsche Haube«, klang er auch genau wie Sebastian. Clara traten Tränen in die erstaunten Augen. Für diesen einen atemberaubenden Moment war das fürchterliche klaffende Loch in ihrem Herzen geheilt, und die aufregenden Möglichkeiten, die das Leben bot, erschienen ihr plötzlich wieder unerschöpflich.
» Sebastian! « Sie schlang die Arme um ihn, weinte vor Freude und klammerte sich an ihn wie ein Kind. »Du … bist es … Du bist’s wirklich!«
»Ja, ich bin es.« Er hielt sie fest an sich gedrückt.
Er nahm ihr die Haube ab, strich ihr über das tränenverschmierte Gesicht und küsste sie leidenschaftlich auf den Mund.
Und dann erwachte Clara.
Sie riss die Augen auf und saß kerzengerade mit bebender Brust im Bett. Sie blickte stur geradeaus, streckte den Arm seitlich aus und tastete mit angehaltenem Atem, vorsichtig und zögernd nach dem leeren Platz neben sich, als bestünde vielleicht doch eine geringe Chance, dass Sebastian dort lag, friedlich schlafend. Doch genauso wie beim letzten Mal, als sie den gleichen seltsamen und doch so real wirkenden Traum hatte, musste sie feststellen, dass sie allein war.
Nach Atem ringend und sich selbst in Erinnerung rufend, dass Sebastian fort war und nie wieder zurückkommen würde, blickte sie sich im Schlafzimmer um. Abgesehen von einem Umzugskarton, der als provisorischer Beistelltisch diente, und der Kommode des Richters war der Raum leer.
Hellwach starrte Clara auf ihren Wecker, der blinkend zwei Uhr vierundvierzig anzeigte. Nachdem ein paar Minuten verstrichen waren, drehte sie ihr Kissen um, sodass die kühle Seite oben war, und versuchte wieder einzuschlafen. Aber ganz gleich, wie sehr sie sich bemühte, sie konnte die gnadenlose Bilderflut aus ihrem lebhaften Traum nicht daran hindern, ihre Gedanken zu überschwemmen. Sie erinnerte sich an Sebastians gefühlvollen Kuss und berührte mit dem Finger ihre Lippen. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als dass jenes Traumgebilde real wäre. Eine tiefe Traurigkeit überkam sie. Clara war bereits vertraut mit dieser nächtlichen Schwermut und kniff die Augen zu, in der Hoffnung, schnell wieder einzuschlafen. Dies waren die quälendsten Stunden, die Clara am meisten hasste: wenn sie ihrem eigenen niederschmetternden Gedankenstrom einfach nicht entfliehen konnte und es keine Hoffnung mehr zu geben schien.
Als Mon Chéri das gedämpfte Schluchzen seines Frauchens hörte, kam er von seinem Lieblingsplatz unter der Tischtennisplatte, wo er normalerweise schlief, hervor. Er sprang auf Claras Bett und kuschelte sich neben sie.
Sie vergrub ihr Gesicht in seinem Fell und weinte weiter vor sich hin.
Mon Chéri legte die Pfote auf ihren Arm, als sie schluchzte: »Ich vermisse ihn so. So sehr …«
»Nachts sieht alles viel schlimmer aus«, hatte Libby immer zu ihr gesagt, wenn sie als kleines Mädchen in der Dunkelheit von schlimmen Sorgen geplagt wurde, wie zum Beispiel, als ihre Schulkameradin Maeve behauptet hatte, sie hätte einen Schnurrbart, und Clara deshalb den Spitznamen »Magnum« verpasste. Oder als sie durch die Fahrprüfung fiel, weil sie auf der falschen Straßenseite gefahren war. »Du wirst sehen, morgen früh sieht die Sache schon nicht mehr ganz so schlimm aus«, behauptete Libby dann beharrlich. Und normalerweise hatte sie recht. Doch das war, bevor ein Laster mit hundertdreißig Sachen in das Auto von Claras Verlobtem raste und damit ihr ganzes Leben aus den Fugen brachte.
Letzte Woche, als sie mit Lincoln Sushi essen war – das fünfte Mal, dass sie seit ihrem Wiedersehen im Park zusammen essen gewesen waren –, hatte er sie aufgefordert, ihn jederzeit anzurufen, egal ob Tag oder Nacht, wenn der unerträgliche Schmerz des Verlustes sie mal wieder zu verschlingen drohte. »Ablenkung ist der Schlüssel«, hatte er zu ihr gesagt und sein Tässchen mit heißem Sake gegen das ihre klirren lassen. Clara starrte das Telefon auf der alten Kommode des Richters an und überlegte, ob sie den Hörer nehmen und Lincolns Nummer wählen
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