Die Liste der vergessenen Wünsche: Roman (German Edition)
bisschen näher an ihn heranrücken und den Kopf an seine Schulter lehnen. Wenn sie die Augen schloss und sich konzentrierte, dann konnte sie seinen großen, kräftigen Körper praktisch neben sich spüren und den moschusartigen, männlichen Duft seines Rasierwassers riechen. Was für ein kleiner, leichter Wunsch das doch war … Andere Leute träumten davon, ein Superheld zu sein, oder sie träumten vom Weltfrieden oder davon, Millionär zu werden – noble Villen zu besitzen, im Privatflieger mit Whirlpool um die Welt zu jetten und sich von einem englischen Butler im Frack namens Ronaldo jeden Wunsch von den Lippen ablesen zu lassen. Nicht so Clara. Ihr größter Traum war so viel einfacher. Trotzdem war er unerfüllbar. Sie schüttelte den Kopf angesichts dieser brutalen Erkenntnis und versuchte, an etwas anderes zu denken.
Zum ersten Mal überhaupt stellte sie sich vor, wie ihr Leben wohl verlaufen wäre, wenn sie jemand anderes wäre. Eine völlig andere Person. Eine, die Sebastian nie getroffen hätte. Eine, die nicht so ehrgeizig die Karriereleiter eines großen Konzerns erklommen hätte und die stattdessen Englischlehrerin oder Kassiererin im Supermarkt geworden wäre oder vielleicht auch die Frau eines Rinderfarmers in einem kleinen Städtchen irgendwo in Nebraska. Eine Frau, deren gesamte Existenz sich nicht darum drehte, den Tod ihres Seelenverwandten zu verarbeiten und weiterzuleben. Eine, die nicht die geringste Ahnung hatte vom alles verschlingenden, bodenlosen Abgrund nicht enden wollender Trauer. Clara stieß einen leisen, verträumten Seufzer aus, als sie daran dachte, wie wundervoll es doch wäre, ein »normales« Leben zu führen: morgens aufzuwachen und Haferbrei mit Rosinen zu machen, die Zeitung zu lesen, sich anzuziehen, zur Arbeit zu gehen und keinen Gedanken an ihren toten Verlobten verschwenden zu müssen – weil sie keinen toten Verlobten hätte. Wie belebend und befreiend es wäre, einfach ihr Leben leben und normal sein zu können!
Während sie noch von diesem verlockenden, fremden Leben ohne Trauer träumte, sank Clara schließlich unter der Ahornburg in den Schlaf.
Mai
24
Eines Morgens Anfang Mai bekam Clara eine E-Mail von ihrem Chef, Mr. Franklin. Im Betreff stand » Wichtig «, in Großbuchstaben. Sofort ahnte sie Böses.
Obwohl sie höflichen E-Mail-Kontakt unterhielten, seit sie ihr Sabbatical begonnen hatte, hatten sie bloß einmal miteinander telefoniert, im März, als Mr. Franklin sie anrief und sich erkundigte, ob sie schon eine Vorstellung habe, wann sie wieder zur Arbeit kommen würde. Clara bezweifelte, dass dem Bierkönig, der eigentlich ein verständnisvoller Mann mit Taktgefühl war, klar gewesen war, dass er an Sebastians erstem Todestag anrief. Aber sie bezweifelte nicht, dass er die Traurigkeit in ihrer Stimme gehört hatte. Clara hatte gerade noch mit Sebastians trauernden Eltern in Cape Cod telefoniert und war ganz und gar nicht in der Stimmung, über Geschäftliches zu sprechen – oder über egal was. Sie wollte nichts darüber hören, wie gestresst und überarbeitet die anderen Kundenbetreuer bei Scuppernong waren, von dem zusätzlichen Druck, der damit einherging, dass sie sich auch noch um Claras Kunden kümmern mussten. »Ich wünschte, ich könnte Ihnen das genau sagen, Mr. Franklin. Aber die Wahrheit ist, ich bin noch nicht sicher, wann ich zurückkommen werde.« Clara hielt das Foto von Sebastian und ihr, wie sie auf der Gala der Bostoner Philharmoniker tanzten, umklammert, als sie ihrem Chef dies schniefend mitteilte. »Wäre es okay, wenn wir dieses Gespräch später per E-Mail fortsetzen würden? Sie haben mich gerade in einem etwas unguten Moment erwischt.« Der Bierkönig, der ihren Kummer wohl gespürt hatte, hatte seufzend eingewilligt.
Clara öffnete seine »wichtige« E-Mail mit einem Doppelklick und las:
Clara,
ich hoffe, es geht Ihnen gut. Hätten Sie heute Zeit für ein Telefonat? Es ist dringend. Bitte lassen Sie mich wissen, wann es Ihnen am besten passen würde.
Ich freue mich, bald von Ihnen zu hören.
Clara befürchtete, dass die »wichtige« Angelegenheit womöglich nichts Gutes für sie bedeuten könnte, und beschloss, Mr. Franklin sofort anzurufen. Also nahm sie sich ihr Telefon und setzte sich an die Tischtennisplatte.
»Hi … Ups! Ich meine, guten Tag.« Eine quirlige Aushilfe nahm ihren Anruf entgegen. »Büro von Mr. Franklin.«
»Hallo, hier spricht Clara Black. Könnte ich bitte Mr. Franklin sprechen?«
»Miss Black!
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