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Die Liste

Die Liste

Titel: Die Liste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Grisham
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sie herum. Sie war neugierig auf die Offsetpresse, weil die Zeitung jetzt so viel besser aussah. »Wer liest denn Korrektur?«, flüsterte 302

    sie.
    »Sie«, erwiderte ich. Sie fand durchschnittlich drei Fehler pro Woche. Ich bekam die Liste immer noch jeden Donnerstag beim Mittagessen ausgehändigt.
    Wir machten einen Spaziergang um den Clanton Square und landeten schließlich bei Claude, dessen »schwarzes«
    Restaurant neben der Reinigung lag. Claude war seit vielen Jahren im Geschäft und hatte das beste Essen der Stadt. Er brauchte keine Speisekarte, weil man aß, was gerade gekocht wurde. Mittwochs gab es Catfish, und Freitag war Barbecue-Tag, doch an den übrigen vier Tagen wusste man nicht, was man essen würde, bis Claude es einem sagte. Er empfing uns in einer schmutzigen Schürze und deutete auf einen Tisch in der Nähe des Fensters zur Straße. Das Restaurant war halb voll, und wir wurden mit neugierigen Blicken bedacht.
    Merkwürdigerweise war Miss Callie Claude nie begegnet. Ich hatte angenommen, dass sich alle Schwarzen in Clanton irgendwann einmal über den Weg liefen, aber Miss Callie erklärte mir, dass das nicht der Fall sei. Claude lebte draußen auf dem Land, und in Lowtown ging das entsetzliche Gerücht um, er sei kein Kirchgänger. Sie hatte nie Wert darauf gelegt, ihm zu begegnen. Vor Jahren waren sie beide einmal bei derselben Beerdigung gewesen, hatten sich aber nicht kennen gelernt. Ich stellte sie vor, und als Claude ihren Namen hörte, sagte er: »Ruffin? Die Ruffins sind doch die Familie mit den vielen Ärzten.«
    »Professoren«, verbesserte Miss Callie.
    Claude war laut, ruppig, nahm Geld für sein Essen und ging nicht zur Kirche, und so entwickelte Miss Callie unverzüglich eine Abneigung gegen ihn. Das bemerkte er, ohne dass es ihn sonderlich berührt hätte. Er verschwand, 303

    und kurz darauf hörten wir ihn irgendwo im Hintergrund herumbrüllen. Eine Kellnerin brachte Eistee und Maisbrot, das beides keine Gnade vor Miss Callies Augen fand. Der Tee sei zu dünn und fast nicht gezuckert, behauptete sie, und das Maisbrot nicht salzig genug und werde bei Zim-mertemperatur serviert, was ein unverzeihlicher Fehler sei.
    »Das ist ein Restaurant, Miss Callie«, sagte ich leise.
    »Können Sie’s nicht etwas lockerer sehen?«
    »Das versuche ich ja.«
    »Nein, tun Sie nicht. Wie können wir das Essen genießen, wenn Sie an allem was auszusetzen haben?«
    »Das ist eine hübsche Fliege.«
    »Danke.«
    Niemand war so begeistert von meiner neuen, eleganten Garderobe gewesen wie Miss Callie. Neger zögen sich gern gut an und seien sehr modebewusst, erklärte sie. Sie bezeichnete sich selbst immer noch als »Negerin«.
    Die Bürgerrechtsbewegung hatte zahlreiche komplexe Fragen aufgeworfen. Zum Beispiel wusste man kaum noch, wie man von Schwarzen sprechen sollte. Ältere Respektspersonen wie Miss Callie bevorzugten es,
    »Neger« genannt zu werden. Einen Tick darunter auf der gesellschaftlichen Leiter standen die »Farbigen«.
    Schwarze aus der Oberklasse verwendeten für die Unterschicht durchaus den Begriff »Nigger«, wobei ich nie gehörte hatte, dass Miss Callie dieses Wort benutzte.
    Da mir diese Abstufungen und Klassen ein Buch mit sieben Siegeln waren, hielt ich mich streng an das neutrale Wort »Schwarze«. Die Menschen auf meiner Seite der Schienen verfügten über ein ganzes Wörterbuch mit Be-zeichnungen, von denen die wenigsten freundlich waren.
    Im Augenblick war ich der einzige Nicht-Neger im 304

    »Claude’s«, was aber niemanden störte.
    »Was wollt ihr essen, Leute?«, brüllte Claude uns von der Theke aus zu. Einer Tafel zufolge gab es Texas-Chili, Brathähnchen und Schweinekotelett. Miss Callie war davon überzeugt, dass Hähnchen und Schweinefleisch von minderer Qualität sein würden, daher bestellten wir beide Chili.
    Sie erzählte, wie es in ihrem Garten aussah. Das Wintergemüse stand besonders gut. Esau und sie bereiteten sich darauf vor, das Sommergemüse zu pflanzen. Der Farmer-Almanach sagte wie jedes Jahr einen milden Sommer mit durchschnittlichen Regenfällen vorher, und sie freute sich schon darauf, dass man, wenn es wieder warm war, auf der Veranda zu Mittag essen konnte, wie es sich gehörte.
    Ich begann von Alberto, ihrem Ältesten, zu sprechen, und eine halbe Stunde später war Miss Callie bei Sam, dem Jüngsten, angelangt. Er lebte in Milwaukee bei Roberto, arbeitete tagsüber und ging abends zur Schule.
    Alle Kinder und Enkel waren wohlauf.
    Sie

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