Die Löwen
durchbrochen von drei gewölbten Torbögen, und in jedem saß, mit gekreuzten Beinen, ein Guerilla. Unwillkürlich fühlte sich Ellis an Wachposten in Schilderhäuschen erinnert. Ellis kannte sie alle drei: Das dort war Mohammed, in dem am weitesten entfernten Torbogen; sein Bruder Khamir, der mit dem strähnigen Bart, befand sich in der Mitte; und im dritten Torbogen erkannte Ellis Ali Ghanim, den hässlichen Mann mit dem verdrehten Rückgrat und der Familie von vierzehn Kindern, der
zusammen mit ihm unten in der Ebene verwundet worden war. Jeder der drei hatte eine Kalaschnikow quer über den Knien und eine Zigarette zwischen den Lippen. Ellis fragte sich, welcher von ihnen wohl morgen noch leben würde.
Er erinnerte sich an das Thema seines ersten Aufsatzes im College: Das Warten vor der Schlacht. Seine Darstellung in Shakespeares Dramen. Ellis hatte zwei stark kontrastierende Reden bzw. Reflexionen gegeneinander gesetzt, die beide einer Schlacht vorausgingen: jene anfeuernde Ansprache in Heinrich V., in der der König sagte: »Noch einmal in die Bresche, teure Freunde, einmal noch; oder füllt auf die Mauer mit unseren englischen Toten«; und Falstaffs zynische Worte über die Ehre in Heinrich IV., 1. Teil:
»Kann Ehre ein Bein ansetzen? Nein. Oder einen Arm? Nein. Ehre versteht sich also nicht auf die Chirurgie? Nein … Wer besitzt sie? Er, der am Mittwoch starb.« Der neunzehnjährige Ellis hatte dafür die höchste Benotung bekommen, ein A, zum ersten-und zum letzten Mal, denn wenig später fand er, Shakespeare und überhaupt der ganze Englischunterricht seien überflüssig.
Eine Reihe von Rufen unterbrach seine Gedanken. Er verstand die Dari-Worte zwar nicht, aber das war auch nicht nötig: Der alarmierende Tonfall verriet, dass die Beobachtungsposten auf den Hängen ringsum in der Ferne Hubschrauber ausgemacht hatten, was sie Jussuf, oben auf der Felsplatte, signalisierten, der die Meldung sofort an die anderen Männer weitergab. Im Dorf, das von der Sonne ausgedörrt zu sein schien, sah man huschende Bewegungen: Die letzten Guerillas nahmen die ihnen zugewiesenen Posten ein. Alle achteten darauf, dass sie sorgfältig getarnt waren; sie überprüften noch einmal ihre Waffen und steckten sich neue Zigaretten an. Die drei Männer in den Eingängen zur Moschee zogen sich weiter zurück ins schattige Innere. Jetzt musste das Dorf, von hoch oben gesehen, verödet wirken: was typisch war für die heißeste Zeit des Tages, wenn die meisten Menschen Siesta hielten.
Ellis lauschte angespannt, und er vernahm den wuchtigen, drohenden Rhythmus der rotierenden Drehflügel. In der Magengegend spürte er ein eigentümliches Schwä-chegefühl: die Nerven. So also, dachte er, ist es den Schlitzaugen ergangen, wenn sie sich in Vietnam im Dschungel versteckten, weil sie meinen Kampfhubschrauber hörten, der durch Regenwolken hindurch auf sie zuhielt. Du erntest, was du gesät hast, mein Junge.
Ellis lockerte die Sicherungssplinte in der Zündvorrichtung.
Das Dröhnen der Hubschrauber kam immer näher. Sehen konnte er sie noch nicht. Wie viele mochten es sein? Jedenfalls mehr als nur einer oder zwei. Aus den Augenwinkeln nahm er eine Bewegung wahr. Er drehte den Kopf und sah, dass am gegenüberliegenden Ufer ein Guerilla in den Fluss tauchte und auf ihn zu schwamm. Als sich die Gestalt nicht weit von Ellis dem diesseitigen Ufer näherte, erkannte er den alten narbigen Schahazai, den Bruder der Hebamme. Schahazai war Spezialist für Minen. Er stürzte an Ellis vorbei und nahm in einem Haus Dek-kung.
Wie ausgestorben lag das Dorf, und es schien nichts zu geben als das immer stärker anschwellende Dröhnen der Kampfhelikopter, und Ellis dachte: Ja, Herrgott noch mal,wie viele haben die denn hergeschickt? Und dann stieg, im gleißenden Sonnenlicht, der erste über der Felswand empor, in schneller Fahrt, und hielt dann auf das Dorf zu. Über der Brücke verhielt er wie ein gigantischer Kolibri.
Es war eine Mi-24, im Westen unter dem Namen Hindin bekannt (die Russen nannten Hubschrauber von diesem Typ die Buckligen, wegen der plumpen Zwillings-Turbinentriebwerke über der Kabine). Der Schütze saß tief unten in der Nase des Hubschraubers, der Pilot unmittelbar hinter und über ihm; sie ähnelten Kindern, die Huckepack spielen. Die Fenster rings um die Kabine glichen den Augen eines monströsen Insekts. Der Helikopter hatte ein dreirädriges Fahrgestell mit kurzen Stummelflügeln und darunter angebrachten
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