Die Löwen
tun.«
»So? Worum geht es dann?«
»Keine Ahnung.«
Warum ist dir dann der Schreck so in die Glieder gefahren? fragte sich Jean-Pierre. »Du hast nicht die mindeste Ahnung?«
»Ich weiß nur, dass Rahmi Coskun verhaftet worden ist.«
»Der türkische Student?«
»Ja.«
»Weshalb?«
»Weiß ich nicht.«
»Und was hat das mit mir zu tun? Ich kenne ihn ja kaum.«
»Monsieur Leblond wird alles erklären.«
Jean-Pierre gestikulierte heftig. »Ich kann doch nicht so einfach von hier fort.«
»Was würde denn passieren, wenn du plötzlich krank würdest?« fragte Raoul.
»Ich würde es der Oberschwester melden, und sie würde für Ersatz sorgen. Aber -«
»Dann verständige sie.« Sie hatten den Ausgang erreicht, wo sich eine ganze Reihe Telefone für den internen Gebrauch befand.
Vielleicht ist dies eine Art Prüfung, dachte Jean-Pierre; eine Loyalitätsprüfung, um festzustellen, ob ich zuverlässig genug für meinen Auftrag bin. Er entschied sich, den Zorn der Krankenhausleitung zu riskieren. Er hob einen Hörer ab.
»Ich muss sofort weg. Da ist ein Notfall in meiner Familie«, sagte er, als er die richtige Verbindung hatte. »Sie müssen sofort Dr. Röche verständigen.«
»Ja, Herr Doktor«, erwiderte die Schwester ruhig. »Hoffentlich haben Sie keine traurige Nachricht erhalten.«
»Ich werd’s Ihnen später erzählen«, sagte er hastig. »Auf Wiedersehen. Oh - einen Augenblick noch.« Er hatte eine frisch operierte Patientin, die in der vergangenen Nacht Blutungen gehabt hatte. »Wie geht es Madame Ferier?«
»Zufrieden stellend. Es hat keine neuen Blutungen gegeben.«
»Gut. Behalten Sie sie ständig im Auge.«
»Ja, Herr Doktor.«
Jean-Pierre hängte auf. »Also gut«, sagte er zu Raoul. »Dann los.« Sie gingen zum Parkplatz und stiegen in Raouls Renault 5. Im Inneren des Autos war es heiß von der Mittagssonne. Raoul lenkte den Wagen durch Nebenstraßen. Er fuhr ein hohes Tempo.
Jean-Pierre war nervös. Er wusste nicht genau, wer Leblond eigentlich war, nahm jedoch an, dass der Mann einen Posten beim KGB hatte. Unwillkürlich fragte sich Jean-Pierre, ob er irgendetwas getan hatte, was den Zorn der viel gefürchteten Organisation auf ihn lenkte, und - falls dem so war - mit was für einer Strafe er zu rechnen hatte.
Über die Sache mit Jane konnten die sicher noch nichts wissen.
Dass er Jane gebeten hatte, mit ihm nach Afghanistan zu gehen, ging die nichts an.
Garantiert würde eine ganze Gruppe reisen, darunter, außer weiteren Ärzten, vielleicht auch eine Schwester als Assistentin für Jean-Pierre: Warum sollte Jane nicht diese Assistentin sein? Zwar war sie keine ausgebildete Krankenschwester, doch konnte sie ja einen Schnellkurs machen, und ihr großes Plus war, dass sie Farsi konnte, die persische Sprache, von der eine Abart in jener Gegend gesprochen wurde, für die Jean-Pierre bestimmt war.
Er hoffte sehr, dass sie mit ihm gehen würde, aus Idealismus und aus Abenteuerlust. Und war sie erst einmal fern vom Westen, so seine Kalkulation, würde sie Ellis nach einiger Zeit vergessen und sich in den am ehesten verfügbaren Europäer verlieben, der natürlich kein anderer sein würde als Jean-Pierre.
Er hatte auch gehofft, dass die Partei niemals erfahren würde, dass er Jane aus persönlichen Gründen ermutigte, ihn zu begleiten. Es war besser, wenn die das nicht wussten, und normal erweise gab’s ja auch keine Möglichkeit, dass sie etwas erfuhren – jedenfalls hatte er das geglaubt. Vielleicht hatte er sich geirrt. Vielleicht waren die zornig.
Ach was, alles Unsinn, dachte er. Ich habe nichts unrechtes getan, wirklich; und selbst wenn ich was verkehrt gemacht hätte, gab’s keine Bestrafung. Dies ist der wirkliche KGB und nicht die mysteriöse Institution, welche die Leser von Reader’s Digest in Angst und Schrecken versetzt.
Raoul hielt vor einem luxuriösen Appartement-Gebäude in der Rue de l’Universite. Es war dasselbe, in dem Jean-Pierre Leblond schon zuvor getroffen hatte. Sie stiegen aus und traten ein.
Die Lobby wirkte düster. Sie folgten den Windungen der Treppe bis in den ersten Stock und klingelten. Wie sehr sich mein Leben doch verändert hat, seit ich das letzte Mal vor dieser Tür stand, dachte Jean-Pierre.
Monsieur Leblond öffnete. Er war ein kleiner, schmächtiger, fast kahlköpfiger Mann mit Brille, und in seinem dunkelgrauen Anzug mit der silbernen Krawatte sah er aus wie ein Butler. Er führte sie in den rückwärtig gelegenen Raum des
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