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Die Löwen

Die Löwen

Titel: Die Löwen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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Doch oft, allzu oft – im Bett, in einem Restaurant, bei einem Spaziergang – , wenn sie mit ihm lachte oder ihm zuhörte und sah, wie er grübelnd die Stirn krauste, geschah es, dass er gleichsam ein Visier herunterklappen ließ. Sein Gesicht wirkte verschlossen, und er war nicht mehr jener liebevolle und amüsante oder auch nachdenkliche und rücksichtsvolle oder zärtliche und leidenschaftliche Mann von sonst. Er gab ihr das Gefühl, abgewiesen zu werden, eine Fremde zu sein, ein Eindringling in seiner privaten Welt. Es war, als verschwinde die Sonne hinter einer Wolke.
    Sie wusste, dass sie ihn verlassen würde. Zwar liebte sie ihn über alles, doch schien er sie nicht in gleicher Weise lieben zu können. Er war dreiunddreißig Jahre alt, und wenn er sie bis jetzt nicht erlernt hatte, die Kunst wahrer Intimität, dann war da auch keine Hoffnung mehr.
    Sie setzte sich aufs Sofa und begann, The Observer zu lesen, den sie auf dem Boulevard Raspail an einem internationalen Zeitungsstand gekauft hatte. Auf der Titelseite war ein Bericht über Afghanistan. Das schien der richtige Ort zu sein, um Ellis zu vergessen.
    Die Idee hatte ihr sofort gefallen. Zwar liebte sie Paris, und ihr Job war ziemlich abwechslungsreich, doch sie wollte mehr: Erlebnisse, Abenteuer und eine Chance, etwas für die Freiheit zu tun. Angst hatte sie nicht. Jean-Pierre hatte ihr versichert, Ärzte seien zu wertvoll, als dass man sie ins Kampfgebiet schickte. Gewiss riskierte man, von einer »verirrten« Bombe erwischt zu werden oder in ein Scharmützel zu geraten, doch war die Gefahr wahrscheinlich nicht größer, als dass man hier in Paris einen Verkehrsunfall erlitt.
    Jane war sehr neugierig, was die Lebensweise der afghanischen Rebellen betraf. »Was essen sie dort?« hatte sie Jean-Pierre gefragt. »Was für Kleidung tragen sie? Wohnen sie in Zelten? Haben sie Toiletten?«
    »Keine Toiletten«, hatte er erwidert. »Keine Elektrizität. Keine Straßen! Keinen Wein. Keine Autos. Keine Zentralheizung. Keine Zahnärzte. Keine Postboten. Keine Telefone. Keine Restaurants. Keine Reklame. Kein Coca-Cola. Keine Wettervorhersage, keine Börsenberichte, keine Dekorateure, keine Sozialarbeiter, keine Lippenstifte, kein Tampax, keine Modenschau, keine Dinnerpartys , keine Taxistände, keine Schlangen an Bushaltestellen -«
    »Hör auf!« hatte sie ihn unterbrochen; er hätte wohl noch stundenlang so fortfahren können. »Die müssen doch Busse und Taxis haben.«
    »Nicht auf dem Land. Ich gehe in ein Gebiet mit dem Namen › Fünf-Löwen-Tal ‹ , eine Bastion der Rebellen in den Ausläufern des Himalaja . Und die war schon primitiv, bevor die Russen sie bombardierten.«
     
    Jane war fest davon überzeugt, dass sie auch ohne WC oder Lippenstift oder Wettervorhersage glücklich leben konnte. Allerdings hatte sie das Gefühl, dass er die Gefahren auch außerhalb des eigentlichen Kampfgebietes unterschätzte; doch aus irgendeinem Grunde schreckte sie das nicht. Ihre Mutter würde zweifellos hysterisch reagieren, während ihr Vater, hätte er noch gelebt, gesagt haben würde: »Viel Glück, Jane.« Er hatte gewusst, wie wichtig es war, dass man etwas Lohnenswertes mit seinem Leben anfing. Obwohl er ein guter Arzt gewesen war, hatte er es nie zu einem Vermögen gebracht, weil er, wo immer sie auch lebten - Nassau, Kairo, Singapur, hauptsächlich jedoch in Rhodesien – , arme Patienten kostenlos behandelte, sodass diese in Scharen zu ihm kamen, während jene, welche zahlen konnten, mehr und mehr wegblieben.
    Ein Geräusch unterbrach sie in ihren Gedanken: Schritte von der Treppe her. Ihr wurde bewusst, dass sie nur wenige Zeilen in der Zeitung gelesen hatte. Die Schritte – nein, sie klangen nicht nach Ellis. Gleich darauf klopfte es an die Tür.
    Jane legte die Zeitung zur Seite und öffnete. Dort stand Jean-Pierre. Er war fast genauso verblüfft wie sie. Für einen Augenblick starrten sie einander wortlos an. Dann sagte Jane:
    »Du siehst irgendwie schuldbewusst aus. Ich auch?«
    »Ja«, sagte er und lächelte.
    »Ich habe gerade an dich gedacht. Komm herein.« Er trat ein und blickte sich um. »Ellis ist nicht hier?« »Er müsste bald kommen. Nimm doch Platz.« Jean-Pierre ließ seinen langen Körper auf dem Sofa nieder.
    Jane dachte wieder, was sie schon oft gedacht hatte: dass er wahrscheinlich der schönste Mann war, den sie je kennen gelernt hatte. Sein Gesicht besaß sehr regelmäßige Züge, mit einer hohen Stirn, einer kräftigen,

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