Die Löwen
einer großen Kapuze zum Schutz gegen die Fliegen. Außerdem waren da ein paar junge Frauen und ein Haufen verängstigter Kinder. Die abwesenden jungen Männer waren zweifellos Guerillas, die sich jetzt irgendwo bei Masud befanden.
Als sie mit der Durchsuchung des Dorfes fertig waren, setzte sich Anatoli auf den Boden, den Rücken gegen eine Steinmauer gelehnt. Nachdenklich blickte er vor sich hin. Jean-Pierre setzte sich neben ihn.
Jenseits der Hügel sahen sie in der Ferne den weißen Gipfel des fast siebentausend Meter hohen Mesmer, der früher einmal die Bergsteiger aus Europa angezogen hatte. Anatoli sagte: »Sieh mal, ob du etwas Tee kriegen kannst.«
Jean-Pierre drehte den Kopf und sah in der Nähe den alten Mann mit der Kapuze. »Mach Tee!« rief er ihm in der Dari-Sprache zu. Der Alte eilte davon; einen Augenblick später hörte Jean-Pierre, wie er den Frauen einen Befehl zurief. »Wir werden bald Tee haben«, sagte er zu Anatoli auf französisch. Anatolis Leute begriffen, dass sie noch eine Weile dableiben würden, und so stellten sie die Motoren ihrer Hubschrauber ab, setzten sich auf den staubigen Boden und warteten geduldig.
Anatoli starrte in die Ferne. Auf seinem flachen Gesicht zeigten sich Spuren von Müdigkeit. »Wir sitzen im Schlamassel«, sagte er.
Jean-Pierre fand es beunruhigend, dass er wir sagte. Anatoli fuhr fort: »In unserem Beruf ist es klug, die Bedeutung einer Aktion herunterzuspielen, bis man sich des Erfolges sicher ist - dann erst beginnt man, die Sache hochzuspielen. In diesem Fall konnte ich mich an diese Faustregel nicht halten. Um Hunderte von Hubschraubern und eintausend Mann für diesen Einsatz zu bekommen, musste ich meine Vorgesetzten von Ellis Thalers außergewöhnlicher Bedeutung überzeugen. Ich musste ihnen die Gefahren vor Augen führen, die uns drohen, falls er entkommt. Das ist mir gelungen. Aber wenn es uns jetzt nicht gelingt, ihn zu fassen, werden sie ziemlich sauer sein. Und dein Schicksal ist natürlich mit meinem verknüpft.«
Aus dieser Perspektive hatte Jean-Pierre die Sache bisher nicht betrachtet. »Was werden sie tun?«
»Meine Karriere wird ganz einfach zu Ende sein. Ich werde zwar genauso besoldet werden wie bisher, aber all meine Privilegien verlieren. Keinen schottischen Whisky mehr, kein Rive Gauche für meine Frau, kein Familienurlaub am Schwarzen Meer, keine Bluejeans und keine Rolling-Stones-Platten für meine Kinder… Nun, ich könnte ohne solche Dinge leben. Was ich nicht ertragen könnte, wäre die schiere Langeweile bei der Art von Posten, auf die man Versager in meinem Beruf abschiebt. Man würde mich in eine Kleinstadt im Fernen Osten versetzen, wo praktisch keinerlei Geheimdienstarbeit anfällt. Ich weiß, wie unsere Leute sich an solchen Orten die Zeit vertreiben und ihre Existenz rechtfertigen. Man schmeichelt sich bei irgendwelchen unzufriedenen Menschen ein, gewinnt ihr Vertrauen und bringt sie zum Reden, ermutigt sie zu kritischen Bemerkungen über die Regierung und die Partei - und verhaftet sie dann wegen Subversion. Es ist eine solche Zeitvergeudung …« Plötzlich schien ihm seine Redseligkeit bewusst zu werden; er brach ab.
»Und ich?« fragte Jean-Pierre. »Was wird mit mir geschehen?«
»Du wirst ein Niemand werden«, sagte Anatoli. »Du wirst nicht mehr für uns arbeiten.
Vielleicht darfst du in Moskau bleiben, aber wahrscheinlich wird man dich zurückschicken.«
»Wenn Ellis durchkommt, kann ich niemals nach Frankreich zurückkehren – man würde mich umbringen.«
»Du hast doch in Frankreich keine Verbrechen begangen.«
»Das hatte mein Vater auch nicht, trotzdem brachte man ihn um.«
»Vielleicht könntest du in ein neutrales Land gehen - Nicaragua beispielsweise, oder Ägypten.«
»Scheiße.«
»Wir wollen die Hoffnung nicht aufgeben«, sagte Anatoli ein wenig zuversichtlicher.
»Menschen können sich nicht in Luft auflösen. Irgendwo stecken sie, unsere Flüchtlinge.«
»Wenn wir sie nicht mit eintausend Mann finden können, dann werden wir sie auch nicht mit zehntausend Mann finden«, sagte Jean-Pierre mutlos.
»Mag sein«, sagte Anatoli. »Aber da wir ohnehin niemals zehntausend mobilisieren könnten, werden wir von jetzt an in stärkerem Maße unser Gehirn einsetzen und die uns verbliebenen Mittel. Unser Kredit ist aufgebraucht. Wir müssen die Sache anders angehen. Überlege mal: irgendjemand muss ihnen geholfen haben, sich zu verstecken.
Und das bedeutet, dass jemand weiß, wo sie
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