Die Löwen
größten Teil seiner Zeit damit verbracht, mit Moskau zu telefonieren. Er hatte es geschafft, die militärische Bürokratie aus ihrem süßen Schlummer zu reißen, indem er zunächst seinen Vorgesetzten im KGB und dann einer Reihe von hohen Militärs eindringlich klarmachte, wie wichtig es sei, Ellis Thaler zu fassen. Jean-Pierre hatte zugehört, zwar ohne die Worte zu verstehen, aber doch voller Bewunderung für die Autorität, die Ruhe und die Dringlichkeit, die aus Anatolis Stimme klangen.
Am späten Nachmittag war die offizielle Genehmigung gegeben worden, und Anatoli musste jetzt seine Pläne in die Praxis umsetzen. Um so viele Hubschrauber zu bekommen, wie er für sein Unternehmen brauchte, hatte Anatoli an allen Drähten ziehen müssen: Hier bat er um eine Gefälligkeit, dort berief er sich auf eine alte Schuld; ziemlich das ganze Gebiet zwischen Jalalabad und Moskau beackerte er mit einem Gemisch aus Drohungen und Versprechungen. Als ein General in Kabul sich weigerte, seine Maschinen ohne schriftlichen Befehl zu Verfügung zu stellen, hatte Anatoli den KGB in Moskau angerufen und einen alten Freund dazu überredet, doch mal einen Blick in die Akte über das Privatleben des Generals zu werfen; dann hatte er den General angerufen und ihm damit gedroht, den Nachschub an Kinderpornografie aus Deutschland zu stoppen.
Die Sowjets hatten sechshundert Hubschrauber in Afghanistan. Um drei Uhr morgens befanden sich fünfhundert davon auf dem Rollfeld in Bagram, unter Anatolis Kommando.
Jean-Pierre und Anatoli waren in der letzten Stunde, über Landkarten gebeugt, damit beschäftigt gewesen, für jeden Hubschrauber Kurs und Aufgabe auszuarbeiten, um den Offizieren die entsprechenden Weisungen geben zu können. Die Weisungen waren sehr präzise – dank Anatolis Detailbesessenheit und Jean-Pierres genauer Kenntnis des Terrains.
Auch wenn Ellis und Jane gestern nicht im Dorf gewesen waren, als Jean-Pierre und Anatoli nach ihnen gesucht hatten, so gab es doch kaum einen Zweifel, dass sie inzwischen von der Razzia wussten und sich jetzt irgendwo versteckt hielten. Allerdings gewiss nicht in Banda. Vielleicht in der Moschee irgendeines anderen Dorfes – Gäste, die nur kurze Zeit in einem Ort weilten, schliefen meist in der dortigen Moschee. Oder sie waren womöglich in einer der kleinen Steinhütten für Reisende untergekommen, von denen es auf dem Land alle paar Kilometer welche gab. Sie konnten irgendwo im großen Tal sein, sie konnten sich aber auch in einem der vielen kleinen Nebentäler versteckt halten. All diese Möglichkeiten hatte Anatoli genau bedacht.
In jedem Dorf des großen Tals und in jedem Flecken der Seitentäler würden Hubschrauber landen. Die Piloten sollten sämtliche Fährten und Fußpfade überfliegen.
Die Infanteristen – mehr als tausend an der Zahl – waren angewiesen, jedes Gebäude zu durchsuchen und unter großen Bäumen und Höhlen nachzuschauen. Anatoli war fest entschlossen, einen zweiten Fehlschlag zu vermeiden. Heute würden sie Ellis finden. Und Jane.
Das Innere des Kampfhubschraubers war eng und kahl. In der Passagierkabine gab es nur eine Bank gegenüber der Tür. Jean-Pierre teilte sie sich mit Anatoli. Sie konnten den Besatzungsraum sehen. Der Pilotensitz war um einen halben Meter erhöht und hatte eine Stufe an der Seite. Die Entwicklungskosten - das war sichtbar – waren in die Bewaffnung, die Geschwindigkeit und die Manövrierfähigkeit des Hubschraubers gegangen. An Komfort hingegen fehlte es völlig.
Während sie nordwärts flogen, brütete Jean-Pierre vor sich hin. Ellis hatte vorgegeben, sein Freund zu sein, während er in Wirklichkeit für die Amerikaner arbeitete. Unter dem Deckmantel dieser Freundschaft war es ihm gelungen, Jean-Pierres Plan zur Ergreifung von Masud zu durchkreuzen; er hatte ein ganzes Jahr anstrengendster Arbeit zunichtegemacht . Und obendrein, dachte Jean-Pierre, hat er meine Frau verführt.
Seine Gedanken bewegten sich im Kreise, kehrten immer wieder zu der Affäre zurück. Er starrte hinaus in die Dunkelheit, sah die Lichter der anderen Hubschrauber und stellte sich die beiden Liebenden vor: wie es zwischen ihnen wohl gewesen war in der letzten Nacht, als sie in irgendeinem Feld unter den Sternen auf einer Decke gelegen hatten, wechselseitig mit ihren Körpern spielend und einander Liebesworte zuflüsternd. Er fragte sich, ob Ellis gut war im Bett. Er hatte Jane gefragt, welcher von ihnen beiden der bessere Liebhaber sei, aber die hatte
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