Die Löwen
erwidert, keiner sei besser, sie seien bloß verschieden. Hatte sie das auch zu Ellis gesagt? Oder murmelte sie: Du bist der Beste, Baby, der Allerbeste? Jean-Pierre fing an, auch sie zu hassen. Wie konnte sie zu einem Mann zurückkehren, der neun Jahre älter war als sie, ein ungehobelter Amerikaner, ein CIA-Agent?
Jean-Pierre blickte zu Anatoli. Der Russe saß reglos da, mit ausdruckslosem Gesicht, wie die Steinstatue eines chinesischen Mandarins. Er hatte in den letzten achtundvierzig Stunden nur wenig Schlaf gehabt, wirkte jedoch nicht müde, höchstens verbissen. Jean-Pierre lernte ihn von einer neuen Seite kennen. Bei ihren Treffs im vergangenen Jahr war Anatoli entspannt und umgänglich gewesen, jetzt wirkte er angespannt, dabei jedoch uNemotional und zugleich unermüdlich, sich und die Leute unerbittlich antreibend. Er schien besessen zu sein, doch auf sehr beherrschte Weise.
Als die Morgendämmerung anbrach, konnten sie die anderen Hubschrauber sehen: Sie glichen einem ungeheuren Schwärm gigantischer Bienen. Der Lärm, den sie machten, musste ohrenbetäubend sein.
Als sie sich dem Tal näherten, begannen sie sich in kleinere Gruppen aufzuteilen. Jean-Pierre und Anatoli befanden sich bei jener Abteilung, deren Ziel Comar war, das nördlichste Dorf im Tal. Für den letzten Teil des Fluges folgten sie dem Fluss . Das rasch heller werdende Morgenlicht ließ auf den Weizenfeldern säuberlich geordnete Garben erkennen: Die Bombardierungen hatten hier im oberen Tal die Feldbestellung nicht völlig zum Erliegen bringen können.
Die Sonne war in ihren Augen, als sie vor Comar tiefer gingen. Das Dorf war eine Ansammlung von Häusern, die am Hügelhang über eine dicke Mauer hinweglugten. Jean-Pierre fühlte sich an die Hügeldörfer in Südfrankreich erinnert, und er spürte eine kurze Aufwallung von Heimweh. Wäre es nicht schön, nach Hause zurückzukehren, anständig gesprochenes Französisch zu hören, frisches Brot zu haben und gutes Essen; oder in ein Taxi zu steigen und zu einem Kino zu fahren?!
Er verlagerte sein Gewicht auf dem harten Sitz. Im Augenblick würde es schon gut tun, aus dem Hubschrauber herauszukommen. Seit er zusammengeschlagen worden war, hatte er mehr oder weniger dauernd Schmerzen. Aber schlimmer als die Schmerzen war die Erinnerung an die Demütigung – wie er geschrien und geweint und um Gnade gewinselt hatte; jedes Mal, wenn er daran dachte, zuckte er buchstäblich zusammen und wünschte, sich verstecken zu können. Er wollte Vergeltung dafür. Er hatte das Gefühl, nie wieder friedlichen Schlaf zu finden, bevor diese Rechnung nicht beglichen war. Und da gab es nur eine Möglichkeit, die ihn befriedigen konnte: Er wollte sehen, wie Ellis zusammengeschlagen wurde, auf dieselbe Weise, von denselben brutalen Soldaten, bis er schluchzte und schrie und um Gnade bettelte, aber mit einer Extra-Raffinesse: Jane würde dabei zusehen.
Am Nachmittag sah dann wieder alles nach einem Fehlschlag aus.
Sie hatten das Dorf Comar durchkämmt und auch all die Weiler in der Nähe sowie sämtliche Seitentäler in diesem Gebiet; selbst die vereinzelten Bauernhäuser nördlich von Comar auf fast unfruchtbarem Land hatten sie ausnahmslos durchsucht. Anatoli stand mit den Befehlshabern der anderen Gruppen in ständigem Funkkontakt. Diese Einheiten hatten im gesamten Tal genauso gründliche Durchsuchungen vorgenommen. Dabei waren sie in einigen Höhlen und Häusern auf Waffenverstecke gestoßen. Auch hatte es mehrmals Scharmützel gegeben mit kleineren Gruppen von Guerillas, und zwar vor allem in den Hügeln rund um Saniz. Das einzig Bemerkenswerte an diesen Scharmützeln war, dass die Russen dabei größere Verluste erlitten als früher, weil die Guerillas neuerdings sehr wirkungsvoll mit Sprengstoffen umzugehen wussten .
Die Russen hatten sich nicht gescheut, auch jedes weibliche Gesicht zu betrachten: also buchstäblich Schleier für Schleier zu lüften. Und sie hatten die Hautfarbe jedes winzigen Babys geprüft. Dennoch war weder von Ellis noch Jane oder Chantal bisher die geringste Spur gefunden worden.
Zum Schluss gelangten Jean-Pierre und Anatoli in den Hügeln über Comar zu einer Pferdestation. Der Ort hatte keinen Namen; er bestand aus einer Handvoll kahler Steinhäuser und einer kärglichen Wiese, auf der magere Klepper im spärlichen Gras weideten. Der einzige männliche Einwohner schien der Pferdehändler zu sein, ein barfüßiger alter Mann in einem langen Nachthemd mit
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