Die Löwen
sechs gewesen: jeweils einer für eines der fünf wichtigsten Seitentäler, die vom Fünf-Löwen-Tal in östliche Richtung abzweigten, und einer, der nordwärts marschieren sollte, zum Quellgebiet des Flusses und darüber hinaus.
Zu jedem der Trupps gehörte wenigstens ein Offizier der regulären afghanischen Armee, der die Dari-Sprache beherrschte. Sie waren mit ihren Hubschraubern bei sechs verschiedenen Dörfern im Tal gelandet, und eine halbe Stunde später war von allen sechs die Meldung eingetroffen, dass sie einheimische Führer gefunden hätten.
»Das ist aber schnell gegangen«, sagte Jean-Pierre, als die sechste Meldung vorlag. »Wie haben sie das gemacht?«
»Ganz einfach«, erwiderte Anatoli. »Sie fordern jemanden auf, ihnen als Führer zu dienen. Er sagt nein. Sie erschießen ihn. Sie fragen einen anderen. Es dauert nicht lange, bis sie einen Freiwilligen finden.«
Einer der Suchtrupps versuchte, der ihm zugewiesenen Fährte aus der Luft zu folgen, doch das Experiment schlug fehl. Es war schon am Boden schwer genug, die Wegzeichen zu finden. Hinzu kam, dass keiner der Führer je zuvor geflogen war: Aus der Vogelperspektive erschien ihnen die Landschaft eher fremd, und sie verloren die Orientierung. So marschierten denn alle Suchtrupps zu Fuß, einige mit requirierten Pferden für das Gepäck.
Für den Vormittag rechnete Jean-Pierre nicht mit weiteren Meldungen, da die Flüchtigen einen ganzen Tag Vorsprung hatten. Allerdings würden die Soldaten schneller vorankommen als Jane, zumal sie das Baby trug.
Jedes Mal , wenn er an Chantal dachte, gab es Jean-Pierre einen Stich. Die Wut auf seine Frau war gewaltig, traf aber natürlich nicht seine kleine Tochter. Im Gegenteil: Chantal musste leiden, dessen war er sicher – das Trekken , den ganzen Tag über, oft oberhalb der Schneegrenze, wo eisige Winde wehten … hoffentlich nahm das Kind keinen Schaden…
Wie so oft in letzter Zeit stellte er sich die Frage, was geschehen würde, falls Jane starb und Chantal überlebte. Er malte sich aus, wie Ellis gefangen genommen wurde, allein; zwei oder drei Kilometer zurück fand man Jane, in der Kälte erfroren, während das Kind in ihren Armen ‘ wunderbarerweise noch lebte. Bei meiner Rückkehr nach Paris würde ich eine tragische, romantische Gestalt sein, dachte Jean-Pierre; ein Witwer mit einem winzigen Töchterchen, ein Veteran des Krieges in Afghanistan … wie sehr würde man mich bewundern! Im übrigen kann ich ein Kind allein großziehen. Was für ein enges Verhältnis wir zueinander haben werden, wenn sie älter wird! Natürlich würde ich ein Kindermädchen engagieren müssen. Allerdings müsste ich sicherstellen, dass sie in der Gefühlswelt des Kindes niemals die Stelle der Mutter einnimmt. Nein, ich würde für Chantal sowohl Vater als auch Mutter sein.
Je mehr er darüber nachdachte, umso wütender wurde er, dass Jane Chantals Leben aufs Spiel setzte. Eine Mutter, die ihr Kind so leichtfertig gefährdete, musste all ihrer mütterlichen Rechte verlustig gehen, gar kein Zweifel. Angesichts dessen würde kein zuständiges Gericht in Frankreich oder in einem anderen europäischen Land einen Augenblick zögern, ihm das Sorgerecht für Chantal zuzusprechen.
Während der Nachmittag verging, zeigte sich Anatoli zunehmend gelangweilt. Jean-Pierre hingegen spürte eine wachsende Anspannung. Beide waren gereizt. Anatoli führte mit anderen Offizieren, die in den fensterlosen kleinen Raum kamen, lange Gespräche auf russisch, und das unaufhörliche Geschwätz ging Jean-Pierre auf die Nerven. Anfangs hatte Anatoli alle Funkmeldungen der Suchtrupps übersetzt, jetzt sagte er nur noch:
»Nichts.«
Jean-Pierre hatte die Routen der verschiedenen Trupps auf Landkarten eingezeichnet und ihren jeweils letzten Standort mit roten Nadeln markiert, doch gegen Ende des Nachmittags folgten die Trupps Fährten oder ausgetrockneten Fluss betten, die auf den Karten nicht zu finden waren.
Als bei Einbruch der Dunkelheit die Trupps ihre Lager aufschlugen, hatten sie noch keine einzige Meldung über die Flüchtigen durchgegeben. Den Verfolgern war eingeschärft worden, die Bewohner aller Dörfer an der jeweiligen Route zu befragen. Die Auskunft, die sie erhielten, war stets die gleiche: Man habe keine Fremden gesehen. Verwundern konnte das kaum, denn die Trupps befanden sich noch auf der Fünflöwenseite der großen Pässe, die nach Nuristan führten. Die befragten Dorfbewohner waren im allgemeinen Masud gegenüber
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