Die Löwen
aristokratisch wirkenden Nase, klaren braunen Augen und einem sinnlichen Mund, der teilweise verdeckt wurde von einem vollen, dunkelbraunen Bart, der auf der Oberlippe durchsetzt war mit ein paar Streifen von hellerem Braun. Seine Kleidung war zwar billig, jedoch sorgfältig gewählt, und er trug sie mit einer nonchalanten Eleganz, um die ihn Jane beneidete.
Sie mochte ihn sehr. Sein großer Fehler war, dass er an Selbstüberschätzung litt; doch war er hierin so naiv, dass es schon wieder etwas Entwaffnendes hatte - wie ein prahlerisches Kind. Sein Idealismus und seine Hingabe an die Medizin gefielen ihr. Erbesass Erbesass einen ungeheuren Charme. Außerdem hatte er eine geradezu märchenhafte Fantasiefantasie , die manchmal sehr komisch sein konnte: Irgendeine Absurdität, ein Versprecher zum Beispiel, schien einen Funken in ihm zu entzünden, und schon stürzte er sich in einen kuriosen Monolog, der zehn oder fünfzehn Minuten dauern konnte. Als irgendjemand eine Bemerkung zitierte, die Jean-Paul Sartre über Fußball gemacht hatte, legte Jean-Pierre spontan los mit einem Kommentar über ein Fußball-Match, wie ihn ein existenzialistischer Philosoph geliefert haben könnte. Jane hatte gelacht, bis ihr der Bauch wehtat . Es hieß, dass seine Fröhlichkeit auch ihre Kehrseite hatte, und zwar in Form von Phasen tiefster Depression, doch davon hatte Jane nie etwas bemerkt.
»Trink einen Schluck von Ellis’ Wein«, sagte sie und griff nach der Flasche auf dem Tisch.
»Nein, danke.«
»Übst du schon für dein Leben in einem mohammedanischen Land?«
»Nicht speziell.«
Er wirkte sehr ernst. »Was ist denn?« fragte sie.
»Ich muss mit dir über etwas Wichtiges reden.«
»Das hast du doch schon vor drei Tagen getan«, sagte sie etwas ironisch. »Oder hast du das schon vergessen? Du hast mich aufgefordert, meinen Freund zu verlassen und mit dir nach Afghanistan zu gehen - ein Angebot, dem wenige Frauen widerstehen könnten.«
»Sei ernst.«
»Schon gut. Ich habe mich noch nicht entschieden.«
»Jane. Ich habe etwas Furchtbares über Ellis in Erfahrung gebracht.«
Sie sah ihn forschend an. Was würde jetzt kommen? Würde er ihr eine erfundene Geschichte, eine Lüge erzählen, um sie dazu zu bringen, dass sie mit ihm nach Afghanistan ging? Nein, dachte sie, das wird er nicht tun. »Also, was ist es?«
»Er ist nicht, was zu sein er vorgibt«, sagte Jean-Pierre.
Er gab sich schrecklich melodramatisch. »Du sprichst ja wie mit Grabesstimme. Was soll das? Worauf willst du hinaus?«
»Er ist kein armer Poet oder so. Er arbeitet für die amerikanische Regierung.«
Jane krauste die Stirn. »Für die amerikanische Regierung?«
Ihr erster Gedanke war, dass er sich ein falsches Bild machte. »Er gibt ein paar Franzosen, die für die amerikanische Regierung arbeiten, Englischunterricht.«
»Das meine ich nicht. Er bespitzelt radikale Gruppen. Er ist ein Agent. Er arbeitet für die CIA.«
Jane lachte laut auf. »Sag mal, spinnst du? Glaubst du wirklich, mich ihm mit einem solchen Märchen abspenstig machen zu können?«
»Es ist die Wahrheit, Jane.«
»Es ist nicht die Wahrheit. Ellis kann kein Spion oder Spitzel sein. Da hätte ich garantiert was bemerkt. Ich lebe praktisch schon seit einem Jahr mit ihm zusammen.«
»Theoretisch, meinst du wohl. Du hast nicht wirklich mit ihm zusammengelebt, oder?«
»Das macht keinen Unterschied. Ich kenne ihn.« Aber noch während sie sprach, dachte Jane: Es würde eine Menge erklären. Sie kannte Ellis nicht wirklich. Doch sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er nicht türkisch und gemein und hinterhältig war - kein böser Mensch.
»Die ganze Stadt weiß es«, sagte Jean-Pierre. »Rahmi Coskun ist heute Morgen festgenommen worden, und es heißt allgemein, dafür sei Ellis verantwortlich.«
»Weshalb hat man Rahmi festgenommen?«
Jean-Pierre zuckte die Achseln. »Wegen Subversion, zweifellos. Jedenfalls sucht Raoul Clermont jetzt in der ganzen Stadt nach Ellis, und irgendwer schreit nach Vergeltung.«
»Ach, Jean-Pierre, das ist doch lachhaft«, sagte Jane. Plötzlich war ihr sehr heiß. Sie trat zum Fenster und öffnete es. Als sie nach unten auf die Straße blickte, sah sie Ellis’ blonden Schöpf, der gerade in der Haustür verschwand. »Nun«, sagte sie zu Jean-Pierre, »er kommt gerade. Jetzt muss t du ihm diese alberne Geschichte auch erzählen.« Sie hörte Ellis’ Schritte auf der Treppe.
»Genau das ist meine Absicht. Was glaubst du denn, weshalb ich
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