Die Löwen
überrascht. Eine Frau hatte er offenbar hier nicht erwartet.
Sein Blick glitt von Jane zu Jean-Pierre und wieder zurück: dass Jean-Pierre nicht sein Opfer war, wusste er. Ihn verwirrte, dass er Ellis nicht sehen konnte, der durch die halb geöffnete Tür verdeckt war.
Statt zu schreien, versuchte Jane, die Tür ins Schloss zu werfen.
Als die Tür auf den Killer zu schwang, bemerkte er das rechtzeitig und streckte seinen Fuß vor. Die Tür traf gegen seinen Schuh und prallte zurück. Doch beim Vorstrecken des Fußes hatte der Killer, des Gleichgewichts wegen, die Arme ausgebreitet, und der Lauf seiner Pistole zielte jetzt nach oben.
Er wird Ellis umbringen, dachte Jane. Er wird Ellis töten.
Sie stürzte auf den Killer zu, traf mit ihren Fäusten sein Gesicht, denn plötzlich, trotz ihres Hasses auf Ellis, wollte sie nicht, dass er starb.
Ihre Attacke irritierte den Mann nur für einen Sekundenbruchteil. Mit muskulösem Arm schleuderte er Jane zur Seite. Sie fiel und landete mit hartem Aufprall auf dem Steißbein, in halb sitzender Position.
Was dann geschah, sah sie mit schreckensvoller Klarheit.
Der Arm, der sie zur Seite geschleudert hatte, schwang zurück und stieß die Tür weit auf.
Während der Killer die Hand mit der Pistole herumschwenkte, kam Ellis auf ihn zu, die Weinflasche in der hoch erhobenen Hand. Im selben Moment, da die Flasche niedersauste und klirrend zerbrach, ging der Schuss los.
Entsetzt starrte Jane die beiden Männer an.
Dann kippte der Killer um, während Ellis stehen blieb, und Jane war klar, dass der Schuss sein Ziel verfehlt hatte.
Ellis bückte sich und nahm dem Killer die Pistole aus der Hand. Jane kam mit Mühe wieder auf die Füße.
»Soweit alles okay?« fragte Ellis sie.
»Ich lebe«, war ihre Antwort.
Ellis blickte zu Jean-Pierre. »Wie viele sind auf der Straße?«
Jean-Pierre warf einen Blick durchs Fenster. »Kein einziger.«
Ellis schien überrascht. »Die müssen sich versteckt halten.«
Er steckte die Pistole in seine Tasche und ging zum Bücherregal. »Tretet zurück!« sagte er und kippte das Regal auf den Fußboden.
Dahinter befand sich eine Tür.
Ellis öffnete die Tür.
Er warf Jane einen langen Blick zu, als wolle er etwas sagen, könne jedoch die Worte nicht finden. Dann trat er durch die Tür und verschwand.
Nach einigen Sekunden ging Jane langsam zur Geheimtür und blickte hindurch. Dort befand sich ein weiterer Raum wie dieser, spärlich möbliert und furchtbar verstaubt, als sei er seit einem Jahr nicht mehr bewohnt worden. Auf der anderen Seite war eine offene Tür und dahinter eine Treppe.
Sie drehte sich um und ließ ihren Blick durch Ellis’ Zimmer gleiten. Der Killer lag bewusstlos auf dem Boden in einer Weinlache. Er hatte versucht, Ellis umzubringen, hier in diesem Zimmer; es kam ihr bereits unwirklich vor. Alles schien so unwirklich: dass Ellis ein Spion war, dass Jean-Pierre davon wusste, Rahmis Festnahme - und Ellis’ Fluchtweg.
Er war verschwunden. Ich will dich niemals wieder sehen, hatte sie vor wenigen Minuten zu ihm gesagt. Es hatte den Anschein, als würde ihr Wunsch in Erfüllung gehen.
Sie hörte Schritte auf der Treppe.
Ihr Blick glitt vom Killer zu Jean-Pierre. Auch er wirkte wie benommen. Einen Augenblick später trat er auf sie zu und legte die Arme um sie. Sie sackte gegen seine Schulter und brach in Tränen aus.
4
1982
DER FLUSS KAM von der Eisgrenze herab, kalt und klar und reißend, und sein Rauschen erfüllte das Tal, während das Wasser wie kochend durch die Schluchten jagte und dann zwischen Weizenfeldern dahinschoss , gleichsam kopfüber dem fernen Flachland entgegen.
Seit fast einem Jahr klang dieses Geräusch Jane unaufhörlich in den Ohren: manchmal laut, wenn sie zum Baden ging oder den sich dahinschlängelnden Felspfaden zwischen den Dörfern folgte; manchmal leise, so wie jetzt, da sie sich hoch oben am Hang befand und der Fünflöwenfluss nichts als ein Glitzern und Murmeln in der Ferne war. So sehr war sie daran gewöhnt, dass ihr das Rauschen dereinst, wenn sie das Tal verließ, fehlen, die Stille sie beunruhigen würde, so wie es manchem Städter im Urlaub auf dem Lande geht, wo er keinen Schlaf findet, weil es so still ist, allzu still. Während sie noch lauschte, wurde ihr plötzlich bewusst, dass da noch etwas anderes war, ein neues Geräusch, das sie das alte erst wahrnehmen ließ. Immer stärker anschwellend über dem Chor des Flusses, erklang der Bariton eines
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