Die Löwen
bergauf. Langsam legte sich die Verzweiflung. Sie beschloss , nur ans Nächstliegende zu denken: zu gehen und zu gehen, bis sie tot umfiel. Chantal begann zu weinen, doch Jane ignorierte sie, und schließlich verstummte das Baby.
Irgendwann später – vielleicht waren inzwischen Minuten vergangen, vielleicht Stunden, Jane hatte jedes Zeitgefühl verloren - holte Ellis sie ein, als sie gerade um eine Ecke bog.
»Schau!« sagte er und wies mit einer Hand nach vorn.
Der Pfad führte in eine Art Schüsseltal, von Hügeln umrundet, von schneebedeckten Berggipfeln gekrönt. Zuerst begriff Jane nicht, warum Ellis »Schau!« gesagt hatte, dann jedoch wurde ihr klar, dass der Pfad jetzt abwärts führte.
»Ist dies die höchste Stelle?« fragte sie verwirrt.
»Ja, das ist sie«, erwiderte er. »Dies ist der Kantiwar-Paß. Den schlimmsten Teil dieses Reiseabschnitts hätten wir hinter uns. In den nächsten Tagen verläuft die Route bergab, und bald wird es auch wieder wärmer werden.«
Jane setzte sich auf einen vereisten Felsbrocken. Ich hab’s geschafft, dachte sie. Ich hab’s geschafft.
Während sie beide hinunterblickten auf die schwarzen Hügel, wechselte hinter den Berggipfeln die Farbe des Himmels von Perigrau zu einem dunstigen Rosa. Der Tag brach an. Während der Himmel sich mehr und mehr erhellte, kehrte in Janes Herz ein wenig Hoffnung zurück. Bergab, dachte sie, und: wärmer. Vielleicht können wir entkommen.
Chantal weinte wieder. Nun, ihr Proviant war nicht mit Maggie verloren gegangen . Jane, auf dem vereisten Felsblock sitzend auf dem Dach der Welt, stillte ihr Baby, während Ellis in seinen Händen Schnee schmolz, damit Jane etwas zu trinken bekam.
Der Weg ins Kantiwar-Tal führte über einen relativ sacht abfallenden, zunächst noch stark vereisten Hang. Immerhin war der Abstieg weniger nervenaufreibend, da sie sich nicht mehr mit der Stute abmühen muss ten . Ellis, der beim Aufstieg kein einziges Mal ausgeglitten war, trug Chantal.
Vor ihnen verwandelte sich der Morgenhimmel in ein flammendes Rot, als stünde hinter den Bergen die ganze Welt in Brand. Janes Füße waren noch immer gefühllos vor Kälte, doch ihre Nase taute gleichsam auf. Plötzlich wurde ihr bewusst , dass sie einen schrecklichen Hunger hatte. Es blieb ihnen nichts weiter übrig, als weiterzugehen, bis sie irgendjemandem begegneten. Das einzige, was sie jetzt noch eintauschen konnten, war das TNT in Ellis’ Taschen. Wenn das alle war, würden sie sich auf die traditionelle afghanische Gastfreundschaft verlassen müssen.
Auch hatten sie jetzt keinerlei Bettzeug. Sie würden in ihren Sachen schlafen müssen, mit den Stiefeln an den Füßen. Irgendwie hatte Jane das Gefühl, sie würden alle Probleme lösen. Selbst den Pfad zu finden, war jetzt ein Kinderspiel, denn die Hänge zu beiden Seiten des Tals waren unübersehbare Richtungsweiser: Weit konnten sie bestimmt nicht abirren vom richtigen Weg. Bald plätscherte zu ihrer Seite ein kleiner Bach - sie befanden sich wieder unterhalb der Eisgrenze. Der Boden war ziemlich eben, und hätten sie noch das Pferd gehabt, so hätten sie hier reiten können.
Nach weiteren zwei Stunden legten sie am Eingang zu einer Schlucht eine Ruhepause ein, und Jane übernahm Chantal.
Der Hang, der jetzt vor ihnen lag, war rau und steil, aber da sie sich jetzt unterhalb der Eisgrenze befanden, bestand kaum Gefahr, auf dem steinigen Boden auszurutschen. Die Schlucht war ziemlich eng und konnte leicht blockiert werden. »Hoffentlich«, sagte Jane,
»gibt’s hier keinen Erdrutsch.«
Ellis blickte in die entgegengesetzte Richtung, hangaufwärts. Plötzlich fuhr er zusammen und sagte: »Allmächtiger Gott!«
»Was ist denn?« Jane drehte sich um, folgte seinem Blick und hatte das Gefühl zu erstarren. Hinter ihnen, etwa anderthalb Kilometer weiter talaufwärts, gingen ein halbes Dutzend uniformierter Männer und ein Pferd: der Suchtrupp.
Nach allem, was wir durchgemacht haben, dachte Jane. Ja, nach all diesen Strapazen haben sie uns nun doch. Ihr war so elend zumute, dass sie nicht einmal weinen konnte.
Ellis packte sie beim Arm. »Schnell«, sagte er, »komm!« Er begann, die Schlucht hinabzueilen, zog Jane hinter sich her.
»Was soll’s?« sagte sie matt. »Die kriegen uns ja doch.«
»Eine Chance bleibt uns noch.« Während sie weitergingen, glitten Ellis’ Augen prüfend über die steilen Felswände zu beiden Seiten der Schlucht.
»Was für eine Chance?«
»Ein Steinschlag.«
»Da
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