Die Löwen
doch der Schock saß zu tief, und er verstummte völlig. Während sie ihn hielt, suchte sie – und fand – den Druckpunkt in seiner Achselhöhle, sodass die starke Blutung aufhörte.
Sie würde seine Hilfe brauchen. Sie muss te ihn zum Sprechen bringen. »Mousa, was war es?« fragte sie in der Dari-Sprache.
Er gab keine Antwort. Sie wiederholte ihre Frage.
»Ich dachte …« Weit öffneten sich seine Augen bei der Erinnerung, und seine Stimme wurde schrill, als er sagte: »Ich dachte, es wäre ein Balü«
»Seht! Seht!« murmelte sie. »Sag mir, was du getan hast?«
»Ich hob’ ihn aufgehoben! Ich hob’ ihn aufgehoben!«
Sie hielt ihn eng umschlungen, beschwichtigte ihn. »Und was passierte dann?«
Seine Stimme klang zittrig, jedoch nicht länger hysterisch. »Es machte peng«, sagte er.
Er beruhigte sich zusehends.
Sie nahm seine rechte Hand und steckte sie unter seinen linken Arm. »Drück dort, wo ich hindrücke«, sagte sie. Sie führte seine Fingerkuppen genau an die Stelle und zog ihre eigene Hand zurück. Wieder begann Blut aus der Wunde zu fließen. »Stärker drücken«, sagte sie. Er gehorchte. Das Bluten hörte auf. Sie küsste ihn auf die Stirn, die feucht war und kalt.
Sie hatte ihr Kleiderbündel neben Mousa auf den Boden fallen lassen. Ihre Kleidung war die gleiche, wie sie die afghanischen Frauen trugen: ein sackförmiges Kleid über Baumwollhosen. Sie nahm das Kleid und riss den dünnen Stoff in Streifen, um eine Aderpresse daraus zu machen. Mousa sah ihr stumm und aus geweiteten Augen zu.
Schließlich brach sie einen dürren Zweig von einem Wacholderbusch, mit dem sie die Aderpresse befestigte.
Jetzt brauchte er schnellstens einen Verband, ein Sedativ, ein Antibiotikum zum Schutz gegen Infektion - und seine Mutter zur Verhütung eines Traumas.
Jane zog ihre Hosen an und schloss das Zugband. Ihr Kleid hatte sie ohne jede Überlegung so in Fetzen gerissen, dass kein Stück übrig geblieben war, mit dem sie ihren Oberkörper hätte bedecken können. Jetzt konnte sie nur hoffen, dass sie auf dem Weg zu den Höhlen keinem Mann begegnen würde.
Und wie sollte sie Mousa dorthin bringen? Dass er zu Fuß ging, wollte sie auf gar keinen Fall. Auf dem Rücken konnte sie ihn nicht tragen, weil er sich nicht an ihr festhalten konnte. Sie seufzte: Es blieb ihr nichts anderes übrig, als ihn in den Armen zu tragen. Sie kauerte nieder, legte einen Arm um seine Schultern und den anderen unter seine Schenkel und hob ihn hoch, wobei sie ihn weniger durch den Einsatz ihrer Rückenmuskeln als durch das Strecken der Knie hochbekam, genau so, wie sie es beim feministischen Fitnessunterricht gelernt hatte. Mit dem Kind dicht an ihrem Busen und seinem Rücken auf der Wölbung ihres Bauches, begann sie langsam den Hang hinaufzusteigen. Es ging nur, weil er halb verhungert war - ein europäisches Kind von neun Jahren wäre zu schwer für sie gewesen.
Bald ließ sie die Büsche hinter sich und fand den Fußpfad. Doch kaum vierzig oder fünfzig Meter weiter fühlte sie sich erschöpft. Seit einigen Wochen schon pflegte sie bei der geringsten Anstrengung zu ermüden, was sie jedes Mal ärgerte, doch hatte sie inzwischen gelernt, nicht dagegen anzukämpfen. Sie stellte Mousa auf die Füße und blieb, die Arme behutsam um ihn gelegt, stillstehen , während sie neue Kräfte sammelte.
Mit dem Rücken lehnte sie sich gegen die Felswand, die den Fußpfad auf der einen Seite begrenzte. Mousa blieb stumm, und sein wie erstarrtes Schweigen beunruhigte sie weitaus mehr, als es seine Schreie getan hatten.
Eine Viertelstunde später, unweit des Gipfels, legte sie gerade wieder eine Ruhepause ein, als ein Mann auf dem Pfad auftauchte. Jane erkannte ihn sofort. »Oh, nein«, sagte sie auf englisch. »Ausgerechnet Abdullah!«
Er war ein kurzwüchsiger Mann von etwa 55 Jahren und ziemlich beleibt, trotz der allgemeinen Knappheit an Lebensmitteln. Zu seinem bräunlichen Turban und den gebauschten schwarzen Hosen trug er einen Argylesweaterargyle-Sweater und ein blaues Jackett, einen Zweireiher mit Nadelstreifen, der aussah, als habe er einst einem Londoner Börsenmakler gehört. Sein üppiger Bart war rot gefärbt. Er war der Mullah von Banda.
Abdullah misstraute Ausländern, verachtete Frauen und hasste jeden, der fremdländische Medizin praktizierte. Da Jane in alle drei Kategorien gehörte, hatte sie niemals auch nur die geringste Aussicht gehabt, seine Sympathie zu gewinnen. Was die Sache noch schlimmer machte:
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