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Die Löwen

Die Löwen

Titel: Die Löwen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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Viele Talbewohner hatten inzwischen erkannt, dass die Einnahme von Janes Antibiotika bei Infektionen weitaus wirksamer half als das Einatmen des Rauchs, der von einem brennenden Stück Papier aufstieg, auf das Abdullah mit Safrantinte geschrieben hatte - was dazu führte, dass der Mullah weniger Geld einnahm. Er wehrte sich dagegen, indem er Jane als »die westliche Hure« bezeichnete, doch viel mehr konnte er nicht tun, denn Jane und Jean-Pierre standen unter dem Schutz von Ahmed Schah Masud, dem Guerilla-Führer, und selbst ein Mullah scheute sich, mit einem solch großen Helden die Klingen zu kreuzen.
    Als er sie sah, blieb er wie angewurzelt stehen, und ein Ausdruck äußerster Fassungslosigkeit verwandelte sein für gewöhnlich feierlich-ernstes Gesicht in eine komische Maske. Ausgerechnet ihn zu treffen, war das Schlimmste, was ihr hatte passieren können. Jeder andere Mann aus dem Dorf hätte verlegen reagiert und womöglich Anstoß an ihrem nackten Oberkörper genommen; Abdullah hingegen würde vor Zorn außer sich geraten. Jane beschloss, es mit Dreistigkeit zu versuchen. Sie sagte in der Dari-Sprache: »Friede sei mit dir.« Dies war für gewöhnlich der Beginn eines Austausches von Begrüßungsformeln, der mitunter zehn Minuten dauerte. Doch Abdullah antwortete nicht mit dem üblichen Und mit dir. Stattdessen riss er den Mund auf und begann mit schriller Stimme Schmähungen auszustoßen, darunter die Dari-Wörter für Prostituierte , Perverse und Kinderverführerin. Mit vor Zorn purpurrotem Gesicht ging er auf sie zu und hob seinen Stock.
    Jane deutete auf Mousa, der stumm neben ihr stand, durch die Schmerzen und den Blutverlust völlig benommen. »Schau doch!« schrie sie Abdullah an. »Kannst du denn nicht sehen, dass – «
    Aber er war blind vor Wut. Bevor sie ihren Satz richtig zu Ende bringen konnte, traf sein Stock mit voller Wucht auf ihren Kopf. Jane schrie auf vor Schmerz und Wut: überrascht, dass es so wehtat, und wütend, weil er es wagte, sie zu schlagen.
    Noch immer hatte er Mousas Wunde nicht bemerkt. Des Mullahs starrer Blick haftete auf Janes Brüsten, und sie begriff plötzlich, dass der Anblick des nackten Busens einer schwangeren weißen Frau aus dem Westen, dazu noch am helllichten Tag, die widersprüchlichsten sexuellen Ängste in ihm auslösen muss te, sodass er jegliche Beherrschung verlor. Er hatte nicht vor, sie mit ein oder zwei Schlägen zu züchtigen, mit denen er seine Frau wegen Ungehorsams zu strafen pflegte: Es trieb ihn, Jane totzuschlagen.
    Tiefe Furcht ergriff sie - um sich selbst, um Mousa, um ihr ungeborenes Kind. Sie taumelte rückwärts, aus seiner Reichweite, doch er folgte ihr und holte aus zu einem neuen Hieb. Einer plötzlichen Eingebung folgend, sprang sie auf ihn zu und stieß ihm ihre Finger in die Augen.
    Er brüllte wie ein verwundeter Stier, weniger vor Schmerz als aus Empörung darüber, dass eine Frau die Verwegenheit besaß, sich gegen seine Schläge zu wehren. Er war noch immer geblendet, als Jane mit beiden Händen in seinen Bart griff und daran zog. Er schwankte vorwärts, stolperte und fiel. Ein Stück weit rollte er den Hang hinab, bis ihn ein Zwergweidenbusch auffing.
    Jane dachte: O du mein Gott, was habe ich getan?
    Niemals, das wusste sie, niemals würde dieser pompöse, bösartige Pfaffe vergessen, wie sie ihn gedemütigt hatte. Er konnte sie bei den › Weißbärten ‹ , den Dorfältesten, verklagen; vielleicht sogar bei Masud darauf dringen, dass die ausländischen Ärzte nach Hause geschickt würden; und wahrscheinlich würde er sogar versuchen, die Männer von Banda dermaßen aufzuhetzen, dass sie Jane steinigten. Doch gleich darauf fiel ihr ein, dass er dazu jede einzelne Schmach eingestehen muss te, die er erlitten - und das würde ihn für den Rest seines Lebens dem Gespött der Dörfler preisgeben. Die Afghanen konnten sehr grausam sein. Vermutlich war sie gerade noch einmal davongekommen.
    Jane drehte sich um. Sie hatte jetzt andere Sorgen. Mousa stand noch immer, wo sie ihn abgesetzt hatte, stumm und ausdruckslos, zu tief im Schock, um zu begreifen, was sich soeben abgespielt hatte. Jane holte tief Luft, hob ihn hoch und ging weiter.
    Ein kurzes Stück noch, und sie hatte die Hochebene erreicht. Sie überquerte das Felsplateau. Sie war sehr müde, und ihr Rücken tat weh, doch sie hatte es beinahe geschafft: Die Höhlen lagen unmittelbar unterhalb des Bergkammes. Wenig später hörte sie Kinderstimmen, und ein Stück weiter abwärts

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