Die Löwen
klar geworden, dass sie sich durch die Schwangerschaft endgültig an Jean-Pierre gebunden hatte. Von da an war sie entschlossen gewesen, alles zu tun, damit ihre Ehe funktionierte – mochte kommen, was da kommen wollte.
Jean-Pierre seinerseits verhielt sich von da an warmherziger. Er begann sich für das in ihr wachsende Baby zu interessieren und zeigte sich besorgt um Janes Gesundheit und Sicherheit, ganz wie von einem werdenden Vater zu erwarten. Unsere Ehe, dachte Jane, wird zwar niemals vollkommen sein, aber doch glücklich, und sie malte sich eine ideale Zukunft aus, mit Jean-Pierre als Gesundheitsminister von Frankreich in einer sozialistischen Regierung, mit sich selbst als Abgeordneter des Europäischen Parlaments und mit drei brillanten Kindern – eines an der Sorbonne, eines an der London School of Economics und eines an der New York School for the Performing Arts.
In diesem Tagtraum war das älteste und brillanteste Kind ein Mädchen. Jane berührte ihren Bauch, drückte sacht mit den Fingerspitzen, der Gestalt des Babys nachspürend.
Rabia Gul, die alte Dorfamme, behauptete, es würde ein Mädchen, weil man es auf der linken Seite fühlen konnte; Jungen wüchsen auf der rechten Seite. Entsprechend hatte Rabia eine Gemüsediät verordnet. Für einen Jungen hätte sie vor allem Fleisch empfohlen. In Afghanistan wurde das männliche Geschlecht schon vor der Geburt besser ernährt.
Ein lautes Krachen unterbrach Jane in ihren Gedanken. Einen Augenblick lang war sie verwirrt - meinte, die Explosion müsse etwas zu tun haben mit den Flugzeugen, die vor mehreren Minuten am Himmel vorübergezogen waren, um ein anderes Dorf zu bombardieren. Doch dann hörte sie, gar nicht weit entfernt, den schrillen, unablässigen Schrei eines Kindes, aus dem Schmerz und Angst sprachen.
Jane war sofort klar, was passiert sein muss te. Die Russen, die sich so mancher von den Amerikanern in Vietnam übernommenen Taktik bedienten, hatten die Landschaft geradezu mit Minen übersät. Das zielte angeblich darauf ab, die Nachschubwege der Widerstandskämpfer zu blockieren; da diese »Guerilla-Nachschubwege« jedoch die Gebirgspfade waren, die tagtäglich von alten Frauen, Männern und Kindern begangen wurden, war der eigentliche Zweck offener Terror. Der Schrei bedeutete, dass ein Kind eine Mine zur Explosion gebracht hatte.
Jane sprang auf. Das Schreien schien aus der unmittelbaren Umgebung von des Mullahs Haus zu kommen, das etwa einen Kilometer außerhalb des Dorfes am Hügelpfad stand.
Jane konnte es gerade noch sehen, ein Stück zu ihrer Linken und ein wenig tiefer gelegen. Sie schlüpfte in ihre Schuhe, griff nach ihrer Kleidung und rannte darauf zu. Der erste, lang gezogene Schrei brach plötzlich ab, und es folgte eine Reihe kurzer, gellender Töne, Ausdruck schieren Entsetzens: Jane hatte das Gefühl, dass das Kind gerade erkannte, welchen Schaden die Mine ihm zugefügt hatte. Während sie durch das Gestrüpp hastete, merkte sie, dass sie selbst in Panik geraten war, so zwingend klang das Schreien des Kindes in seiner Not. »Reiß dich zusammen«, befahl sie sich atemlos.
Falls sie unglücklich stürzte, wären sie beide gefährdet und hilflos - und überhaupt: Das Schlimmste für ein verängstigtes Kind war ein verängstigter Erwachsener.
Sie war jetzt ganz in der Nähe des Kindes. Es muss te irgendwo im Gebüsch sein, nicht auf dem Pfad selbst, denn alle Pfade wurden nach jeder Verminung von den Männern geräumt; das gesamte Gelände zu räumen, war schlechthin unmöglich.
Sie blieb stehen und lauschte. Ihr Keuchen war jetzt so laut, dass sie den Atem anhalten muss te. Die Schreie kamen von einer Stelle, die mit Kamelgras und Büschen bewachsen war. Sie zwängte sich hindurch und sah ein Stück blauer Kleidung. Das Kind muss te Mousa sein, der neunjährige Sohn von Mohammed Khan, einem der Guerilla-Führer.
Einen Augenblick später war sie bei ihm.
Er kniete auf dem staubigen Boden. Offenbar hatte er versucht, die Mine aufzuheben, denn sie hatte ihm die Hand abgerissen, und jetzt starrte er mit weit aufgerissenen Augen auf den blutigen Stumpf und schrie vor Entsetzen.
Jane hatte im vergangenen Jahr viele Wunden gesehen, und doch löste dieser Anblick tiefes Mitgefühl in ihr aus. »Oh, lieber Gott«, sagte sie. »Du armes Kind.« Sie kniete sich vor ihm hin, nahm ihn in die Arme und murmelte beschwichtigend auf ihn ein. Nach einer Weile hörte er auf zu schreien. Sie hoffte, er werde jetzt anfangen zu weinen,
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